Heimatvereine

Zwischen Politik und Stadtteilgeschichte

Inge Zichel ist „erst“ 1970 nach Stellingen gezogen. Heute ist sie Vorsitzende des lokalen Heimat- und Bürgervereins. Foto: Mauricio Bustamante

Heimat- und Bürgervereine gibt es in Hamburg mindestens seit dem Jahr 1850. Entstanden als Gegengewicht zum Senat, müssen sie sich heute um Nachwuchs bemühen. Eine Erkundung in der Nähe des Rathauses und in Stellingen.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Es ist laut im Schatten des Vereinsheims des TSV Stellingen. Ein ständiges Summen und Brummen, dann Dröhnen, wenn die Autos wieder anfahren. Die Straße „Am Sportplatzring“ ist hier siebenspurig, kreuzt die wiederum sechsspurige Kieler Straße, wird zur Volksparkstraße, und dann ist da noch die A7 mit ihren Auf- und Abfahrten nach Süden und Norden, die den Stadtteil zerschneidet. „Das war hier mal alles ländlich, hier waren Weiden und Wiesen, und Langenfelde, das heute zu Stellingen gehört, kommt von ‚längs dem Felde‘, wie der dänische König Christian der Siebte 1777 den Ort für seine Zollstation nannte“, erzählt Inge Zichel. Wenn sich hier jemand auskennt, dann sie. Sie ist die Archivarin des Heimat- und Bürgervereins Stellingen von 1882, und sie ist dessen erste Vorsitzende.

Ist Stellingen ihre Heimat? „Jetzt ja“, sagt sie. Denn es habe ein bisschen Zeit gebraucht, bis sie sich engagierte; dabei seien sie und ihr Mann bereits 1970 hierhergezogen. „Geboren bin ich in Wandsbek, dann ging es nach Harvestehude, wo ich aufwuchs, und das war eine prägende Zeit“, ergänzt sie.„Aber wenn ich da heute hinfahre, ist es Vergangenheit: Ich war dort mal zu Hause, aber ich bin es nicht mehr.“

„Das war alles ländlich. Hier waren Weiden und Wiesen.“

Inge Zichel, Heimat- und Bürgerverein Stellingen

Dass sie Stellingerin wurde, mit Herz und mehr, verdankt sie auch einem magischen Moment: „1992, bei unserem zweiten Stellingen-Fest – ich war da schon im Verein, aber nur am Rande, überhaupt nicht aktiv – da hatte ich mich bereit erklärt, als Langenfelder Buttermädchen zu kommen.“ Das Kostüm hatte eine Frau aus dem Heimatverein genäht: Die Buttermädchen verkauften am Wochenende auf den Märkten in Hamburg und Altona die übrig gebliebene Butter und trugen, um in der Masse der Verkaufenden aufzufallen, als Frauen einen Zylinder. „Ich fand das so klasse, in dieses Kostüm zu steigen und plötzlich jemand anderes zu sein: Ich war das Buttermädchen!“, erzählt sie.

Die Euphorie hielt an, und sie tauchte ein in die Stellinger Regionalgeschichte, recherchierte zu jedem Haus und jeder Straßenecke, sammelte Fotos, befragte die damaligen Bewohner:innen und verankerte sich so. Es macht Spaß, mit Inge Zichel durch den Stadtteil zu schlendern: Sie zeigt, wo einst statt einer mehrspurigen Kreuzung die Milchhalle stand und wo die Reformschule aus den 1950er-Jahren mit ihren hellen, lichtdurchfluteten Räumen. Sie berichtet, dass in der Straße Gemseneck der Zirkus von Carl Hagenbeck stand oder dass in dem einstigen Lokal „Zur Börse“ eben auch die örtliche Spar- und Darlehenskasse residierte; sie erzählt von der Tongrube, aus der die örtliche Ziegelei ihr Material schöpfte und von der nichts mehr vorhanden ist, außer der Name: Am Ziegelteich. Und sie kann von der geplanten Bebauung des ehemaligen Sportplatzes des TSV Stellingen berichten, den es immerhin 116 Jahre lang gab. Alles war schon unter Dach und Fach, auch ein Bürgerhaus sollte Platz finden, sogar Räume für den Bürgerverein, aber dann zog sich der Bauträger zurück und nun beginne man wieder bei null.

„Man kann mehrere Heimaten haben.“

Herlind Gundelach

Neben Führungen, gerne für Zugezogene, für Neustellinger:innen, bietet der Bürgerverein Spiele-Treffen an, regelmäßiges Kaffeetrinken mit Klönschnack. Außerdem Sport und Tagesausflüge in die nähere Umgebung oder innerhalb des Stadtteils. Neulich ging es in die Fazle-Omar-Moschee, übrigens die drittälteste Moschee in Deutschland. Auch eine Stadtteilzeitung bringt der Bürgerverein heraus, viermal erscheint sie im Jahr. 176 Mitglieder zählt der Verein derzeit, 22 Euro kostet der Jahresbeitrag. So wenig? Oh, was gab das für Debatten, als der Beitrag zuletzt erhöht wurde! Jedenfalls: Inge Zichel hat für die nahe Zukunft eine besondere Zielgruppe im Blick: die Jungrentner:innen. Menschen, die nicht mehr arbeiten müssen und Zeit haben; die noch mobil sind und zupacken können. „Ideen, was wir noch alles anbieten könnten, haben ich und meine Vereinskollegen genug“, sagt sie. Nur: Wer macht es? Sie selbst wird noch vier Jahre als Vorsitzende dabei sein: „Dann bin ich 80 und dann ist auch mal gut.“ Und sie sagt mit einem Lachen: „Heimat ist, wenn man etwas zu tun hat.“

Ortswechsel. Wir treffen Herlind Gundelach vor dem Hamburger Rathaus. „Heimat ist heute wieder ein Thema, aber diesmal positiv besetzt“, sagt sie: „Die Nationalsozialisten haben den Heimat-Begriff missbraucht, haben ihn in die rechte Ecke gestellt und aus der sind wir wahnsinnig lange nicht herausgekommen.“ Sie ist seit 2012 Präses des Zentralausschusses, dem Zusammenschluss Hamburger Heimat- und Bürgervereine; übrigens als erste Frau in dessen mittlerweile 138-jähriger Geschichte: 1886 schlossen sich diverse, teilweise Jahrzehnte zuvor gegründete Heimatvereine zusammen, um sich für bessere Straßen oder eine ordentliche Kanalisation einzusetzen oder sich generell für die Zugehörigkeit ihres Ortes zu der wachsenden Stadt Hamburg zu engagieren. So wie der Heimat- und Bürgerverein St. Pauli, der wollte, dass aus St. Pauli mehr wird als nur eine schnöde Vorstadt.

Herlind Gundelach ist Präses des Zentralausschusses, dem Zusammenschluss Hamburger Heimat- und Bürgervereine. Foto: Mauricio Bustamante

Und wie ist das mit ihr und der Heimat? „Ich bin eine waschechte Schwäbin, die im Rheinland groß geworden ist; die zwischendurch in Hessen war und die nun seit 20 Jahren in Hamburg lebt – fragen Sie mich also nicht, wo ich hingehöre“, sagt sie. Lieber erzählt sie über ihren Wohnort: nämlich Wilhelmsburg. Denn auch dort gibt es einen Heimat- und Bürgerverein, dessen Vorsitzende sie ist. Und so kennt sie neben den Mühen der sogenannten großen Politik auch all die Sorgen und Nöte, mit denen sich Inge Zichel in Stellingen Tag für Tag abmüht: „Wir haben echte Probleme, Nachwuchs zu finden; Bürgervereine gelten als nicht so spannend, und Mitglied wird man meist erst ab dem 45. Lebensjahr, wenn nicht viel später.“ Dabei gäbe es gute Motive für einen Imagewandel: Heimat sei nicht mehr wie früher ein Ort, sondern sei dort, wo man gute Freunde habe. „Heimat, das sind heute die Menschen“, sagt Herlind Gundelach. Und genauso wichtig: „Man kann heute durchaus mehrere Heimaten haben; nehmen Sie nur die Zugewanderten.“ In diese Richtung sollten sich die Heimat- und Bürgervereine unbedingt öffnen. Es gäbe nicht nur in Wilhelmsburg recht erfolgreiche und aufgeschlossene Geschäftsleute mit türkischen Wurzeln. Bei deren erwachsenen Kindern habe sie neulich beim Fastenbrechen während des Ramadans ihren Verein vorgestellt. Herlind Gundelach lächelt und sagt: „Wenn alles klappt – und warum sollte es nicht –, haben wir bei uns im Vorstand bald zwei, die sind um die 25.“ In einem ist sie sich ganz sicher: „Heimat ist heute nichts Rückwärtsgewandtes mehr.“

Artikel aus der Ausgabe:

Ist das Heimat?

Was Heimat für unsere Verkäufer:innen bedeutet, wieso Heimatvereine als Gegengewicht zum Senat galten und was am Heimat-Begriff kritisch ist, erfahren Sie im Schwerpunkt. Außerdem: Spatzen von St. Pauli und ukrainische Kids auf dem Skateboard.

Ausgabe ansehen

Weitere Artikel zum Thema