Im Hamburger Haus Öjendorf dürfen alkoholkranke Bewohnerinnen und Bewohner weitertrinken. Geht das gut?
Sonntags gönnt sie sich zum Frühstück einen Piccolo. Das habe sie mit ihrem Mann auch immer so gemacht, meint Ulla F. Ansonsten höchstens mal ein Alsterwasser. Mehr nicht. Bestimmt nicht. Die 66-Jährige hat kurze graue Haare, im Gesicht viele Furchen und kaum noch Zähne, bald bekomme sie ein Gebiss, sagt sie mit verhaltenem Lächeln. „Ich habe hier viel Blödsinn gemacht, zu viel getrunken, aber damit ist es vorbei.“ Seit drei oder vier Jahren ist sie hier, genau weiß sie es nicht. Auf ihr Gedächtnis sei kein Verlass mehr, meint sie. Vor ihrem Stuhl im Café des Pflegeheims steht ein Rollator, das Gehen fällt ihr schwer, ohne Rollator traue sie sich nicht mehr los. Neben ihr sitzt Ursula S., eine dünne Frau in einem grauen Sweatshirt, das ihr um die Hüften schlackert. Die ganze Zeit schaut sie auf ihr Handy, das vor ihr auf dem Tisch liegt. „Deine Nichte ruft bestimmt gleich an“, sagt Ulla F. freundlich zu ihr. Dann erklärt sie: „Uschi wartet darauf, dass ihre Nichte sie besucht, manchmal machen sie kleine Ausflüge zusammen. Sonst hat Uschi keinen, ihre Tochter lässt sich nicht blicken.“
Wer im Haus Öjendorf eine Bleibe gefunden hat, bekommt normalerweise wenig oder gar keinen Besuch. Auch Ulla F. nicht, deren Tochter in Namibia lebt. Das erzählt sie zumindest. Die Menschen hier leben am Stadtrand von Hamburg, inmitten von Kleingartenanlagen – und am Rande der Gesellschaft. Weiß gestrichene Häuser, modern, sachlich. Derzeit sind es 130 Männer und 26 Frauen zwischen 39 und 81 Jahren, die meisten haben Einzelzimmer. Das Durchschnittsalter liegt bei Anfang 60, das ist ziemlich jung für ein Pflegeheim. Das Sozialamt und die Pflegekassen übernehmen die Kosten, die Bewohner:innen werden medizinisch versorgt, bekommen Ergo- oder Physiotherapie, wenn sie es denn wollen. Alle, die hier leben, sind pflegebedürftig, viele leiden unter dem Korsakow-Syndrom, dazu gehören Gedächtnisstörungen, schuld ist der jahrelange Griff zur Flasche.
Haus Öjendorf ist eine besondere Einrichtung, keiner muss sich hier mit seiner Sucht verstecken. Es gebe in Deutschland kaum Vergleichbares, meint Pflegedienstleiter Andreas Meyer. „Welches Heim würde jemanden aufnehmen, der auch mal sozial auffällig wird, herumbrüllt, torkelt und volltrunken im Flur liegt – das passiert hier immer wieder.“ Seit 40 Jahren arbeitet Meyer hier, damals herrschte noch Alkoholverbot, zumindest pro forma. Heute wird im Heim sogar Alkohol eingeteilt, Flaschenbier und Wein in Tetrapaks. Zahlen müssen die Bewohner:innen das selbst. 120 Euro im Monat bekommt jede:r für den persönlichen Bedarf ausbezahlt, Seife, Zigaretten, Alkohol. Das muss reichen. Aber reicht es, wenn jemand süchtig ist? Am Monatsende, wenn das Geld alle ist, werde die Stimmung im Heim aggressiver, erklärt Meyer. Was ist, wenn das Budget aufgebraucht ist? „Dann helfen sich die Bewohner gegenseitig, manche gehen raus, sammeln Pfandflaschen, klauen im Supermarkt, betteln oder verkaufen eine Obdachlosenzeitung.“ Beim Discounter um die Ecke hätten viele Bewohner:innen bereits Hausverbot. Auch in der Einrichtung werde geklaut. Was passiert dann mit den Leuten? „Wir sagen ihnen ganz klar, dass Diebstahl verboten ist und sie sich an die Regeln halten müssen. Aber keiner verliert deshalb seinen Heimplatz.“
Andreas Meyer ist ein großer, stämmiger Mann, der mit den Heimbewohner:innen auf Augenhöhe spricht. Es ist Mittagszeit, gerade kommt jemand an Meyers Büro vorbeigeschlurft, in der linken Hand hält er eine Bierflasche. „Eins reicht“, sagt der Mann, „ich will ja nicht vorm Lidl stockbesoffen unter der Bank liegen, das können die anderen machen.“ – „Schon gut, bleib dabei“, sagt Meyer und klopft ihm auf die Schulter. Als er weg ist, sagt der Pflegedienstleiter: „Manche trinken bis zum Pupillenstillstand. Jeder meint hier, er trinke eigentlich nur ganz wenig. Die Suffköpfe, das sind immer die anderen.“ Warum tun die Leute so, als würde es bei einem „Bierchen“ am Tag, beim Sonntags-Piccolo bleiben? „Aus Scham“, meint der 63-Jährige. Das sitze ganz tief drin. Niemand wolle zugeben, schwer abhängig zu sein. Dabei würden alle wissen, was los ist. „Wenn jemand im Tagesraum beim Tischdecken helfen soll und vollgedröhnt ist, sagt er nicht, dass er nicht kann, weil er hackedicht ist, sondern dass er krank ist.“ Laut Meyer gibt es im Haus eine „Trinkerhierarchie“: Wer weniger konsumiert, fühlt sich den anderen überlegen und verkündet das lauthals.
Haus Öjendorf ist normalerweise Endstation. Wer hier einzieht, bleibt oft sechs bis acht Jahre, bis zum Tod. Viele waren vorher obdachlos, sind mit abgefrorenen Zehen, Läusen oder Krätze in das Heim gekommen, auf der Straße ausgeraubt worden. Ein Obdachloser wurde mit Brandwunden aufgenommen, er war auf einer Parkbank angezündet worden, erzählt Meyer. „Unsere Bewohner haben keine Perspektive, gesund zu werden, aber immerhin ein deutlich besseres Leben als draußen. Sie können ihre letzten Jahre in einer menschenwürdigen Atmosphäre verbringen.“ Die Warteliste ist lang, Haus Öjendorf ist begehrt. Mitunter fragen Angehörige nach einem Platz für den Partner oder die Mutter, häufig ruft ein Betreuer an, der vom Amtsgericht eingesetzt ist, um sich um „seinen“ Alkoholiker zu kümmern. Therapien zur Heilung der Suchtkrankheit gibt es hier nicht mehr, das haben fast alle mehrmals probiert. Pflegekräfte und Sozialarbeiter:innen versuchen, den Bewohner:innen dabei zu helfen, ihr Geld und den Stoff gut einzuteilen. „Reduzierung der Selbstschädigung“ heißt die Zauberformel, für viele allerdings kaum umsetzbar. Die wenigsten ziehen wieder aus, machen eine Therapie, womöglich unterstützt von der Familie, und finden eine eigene Wohnung.
Es sind viele Fragen, die einem hier durch den Kopf gehen. Tut man den Menschen einen Gefallen, wenn man den Alkoholkonsum duldet, ihnen Wein einteilt? Sollte man sie nicht stärker zum Entzug drängen? Wie weit darf man sich in ein anderes Leben einmischen, selbst wenn es von der Sucht regiert wird? Wie geht das Heim mit Alkoholexzessen um? Auch Andreas Meyer hat da nicht immer klare Lösungen parat und bei den Exzessen schon gar nicht. „Wenn einer schwer betrunken ist und sich vor die Eingangstür zum Empfang legt, würde ich erst mal versuchen, ihn auf sein Zimmer zu schicken.“ Und wenn er nicht will? Das sei immer eine Gratwanderung, meint Meyer, er wolle nicht übergriffig sein, das Haus sei ein Pflegeheim, ein Zuhause, keine Erziehungsanstalt mit Zwangsmaßnahmen. Wenn jemand akut gesundheitlich gefährdet ist, greift das Pflegepersonal ein und ruft auch mal einen Krankenwagen. Über die Jahrzehnte habe er gelernt, wann es um Leben und Tod gehe, wann er einschreiten müsse und wann nicht.
Bei Gewalt und Handgreiflichkeiten kennt der Pflegedienstleiter kein Pardon. Da wird auch schon mal die Polizei geholt, die dann sehr schnell kommt, Haus Öjendorf ist ihnen bekannt. Wird jemand mehrfach gewalttätig, kann es passieren, dass er das Heim verlassen muss. „Ich sage meinen Pflegekräften: Geht möglichst nicht dazwischen, ihr seid hier nicht die Sheriffs. Ich sage ihnen aber auch: Alkoholismus ist eine Krankheit, nehmt es nicht persönlich, wenn euch jemand dumm kommt oder rumpöbelt. Es gibt immer Gründe, warum jemand so geworden ist.“
Ulla F. war in einem Hamburger Verlag in der Versandabteilung tätig. Dann wurde die Abteilung aufgelöst, sie verlor ihren Job. „Ich habe das sehr bedauert, meine Arbeit immer gern gemacht“, sagt sie. In dieser Zeit, es war vor etwa acht Jahren, genau weiß sie es nicht, starben ihr Mann und beide Eltern, kurz hintereinander. Danach fing sie an, regelmäßig Wein zu trinken, gegen den Kummer, es wurde immer mehr, sie verlor die Kontrolle. Kann so ein Leben in der Sucht überhaupt noch gut werden? In Haus Öjendorf gibt es zumindest Menschen, die ein Auge auf sie haben, die dafür sorgen, dass sie neue Zähne bekommt. „Ich bin froh, hier zu sein, fühle mich aufgehoben“, sagt sie.
Auch Ursula S. musste erleben, dass ihr gewohntes Dasein Risse bekam, dass es schnell gehen kann mit der Sucht, wenn die Halteseile wegfallen. Mit Anfang 60 war sie in Rente gegangen und fühlte sich zu Hause oft allein. „Mein Lebensgefährte war viel unterwegs, auf dem Zwutsch.“
Der Alkohol wurde ihr neuer Lebensgefährte, der Fusel zum Freund, ein falscher Freund. Schließlich habe ihre Schwester sie hergebracht. „Ich wäre jetzt lieber zu Hause, da ist es schöner. Aber das wird nichts, der Zug ist abgefahren.“ Sie sei selbst schuld, dass sie jetzt hier sei, meint die 70-Jährige. Wenn sie spricht, hat man das Gefühl, das Pflegeheim sei für sie eine Strafe, die sie absitzen muss. Kann man überhaupt von Schuld sprechen, wenn es um Alkohol und Abhängigkeit geht? Ist es eine persönliche Niederlage, wenn jemand die Zumutungen des Lebens nicht verkraftet? „Als ich noch gearbeitet habe, ging es mir viel besser, da brauchte ich den Alkohol nicht“, sagt Ursula S. und zieht die Schultern hoch, ganz nah an die Ohren.
Arbeit und Struktur. Dafür gibt es in Haus Öjendorf mehrere Angebote. Die Bewohner:innen müssen nur wollen, und oft wollen oder können sie nicht. Bleiben in ihren Zimmern, nicht selten den ganzen Tag, begleitet nur von der Flasche und dem Fernseher. Die meisten essen allein, die Sucht macht einsam. Wer es aus dem Zimmer schafft, kann im Garten helfen, im hauseigenen Café oder dem Laden. Oder im Hobbyraum Seidentücher bemalen.
Viele Männer zieht es in die Werkstatt, ein großer Wohncontainer etwas abseits auf dem Gelände, wo sie mit Holz und Metall arbeiten, Vogelhäuser bauen, Bilder malen, Fahrräder reparieren, dafür gibt es eine Aufwandsentschädigung. Marko Heide ist der junge Werkstattleiter, es mache ihm Spaß, die Leute zu motivieren, sagt er. Manche sind von morgens 8.30 Uhr bis nachmittags
16 Uhr hier, ein ganzer Arbeitstag. Fast ein Stück Alltag.
Eckart S. sitzt vor einer großen Leinwand, den Pinsel in der Hand. Er malt mit Acryl- und Ölfarben, am liebsten maritime Motive, Schiffe auf hoher See, Leuchttürme. „Vor sieben Jahren ist meine Frau gestorben. Danach habe ich mit dem Trinken angefangen“, sagt er. Früher war er mal Chef eines Bestattungsinstituts, nach zwei Herzinfarkten hat er seinen Beruf an den Nagel gehängt. „Beim Malen kann ich gut abschalten, das ist eine ganz eigene Welt.“ Die Farben sind seine Nische geworden, die er gegen den Alkohol verteidigen kann.
Im Nachbarraum hat Jens N. vor sich auf dem Schoß ein großes Blech liegen, das er akribisch poliert. Es stammt von einem Grill, vor Kurzem war im Haus ein Fest, mit Grillwürstchen und Salaten. „Das muss wieder ganz sauber werden“, sagt der 58-Jährige. Auch er kommt jeden Tag, fühlt sich wohl mit den anderen Männern: „Wir sind die Werkstattcrew.“ Mehr als 25 Jahre war er als Fernfahrer unterwegs, wurde arbeitslos, fand keinen neuen Job, war gefrustet. In seiner Wohnung hatte er Hochprozentiges gebunkert, rund 100 Flaschen, die er auf seinen Fahrten durch Europa gekauft hatte. Die Sammlung wurde ihm zum Verhängnis, er fing an, eine Flasche nach der anderen zu leeren. Seine Hausärztin habe ihm dann hier ein Zimmer besorgt. Wünsche an das Leben? „Die Zeit ist vorbei. Ich bin froh, wenn ich einigermaßen gesund bin und hier arbeiten kann.“ Das Feierabendbier habe er sich dann verdient. Später erzählt jemand, Jens N. trinke schon auch mal etwas über den Durst.
Am Nachmittag ist das Café des Pflegeheims gut gefüllt, es gibt Kaffee und Kuchen. Viele sitzen draußen, an runden Tischen unter Sonnenschirmen. Aus einem Lautsprecher, den jemand mitgebracht hat, wabern deutsche Schlager. Udo Jürgens, Freddy Quinn, Katja Ebstein. 1970er-Jahre. Lange ist es her, aber den Leuten im Café, die keine Ziele mehr haben, ist das egal, viele summen leise mit. Peter Alexander singt jetzt: „Die kleine Kneipe in unserer Straße, da, wo das Leben noch lebenswert ist …“ Die Schnulze von einem idyllischen Ort, wo Bier und Korn so harmlos sind wie Würstchen mit Kraut. Auch Ulla F. summt leise mit. Vielleicht denkt sie an früher, als die kleine Kneipe für sie ein unschuldiger Ort war.