Hamburger Tafel

Krisenhelfer in der Krise

Ehrenamtliche verladen Lebensmittel am Lager der Hamburger Tafel in Wandsbek. Foto: Imke Lass

Mit Teamgeist und Tatkraft kämpfen Ehrenamtliche der Hamburger Tafel gegen die wachsende Armut an. Doch die Krise trifft den Verein ins Mark. Die Mittel werden knapp.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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„Wenn ihr irgendwelche Götter habt, dann betet.“ Einen besseren Rat kann Jan Henrik Hellwege seinen Mitarbeitenden zurzeit nicht geben. Das Team der Hamburger Tafel arbeitet mit voller Kraft, 24 Supermärkte klappern die Kolleg:innen im Fahrdienst täglich ab. „Mehr geht wirklich nicht an einem Vormittag“, sagt der Geschäftsführer. Doch es reicht nicht.

Inzwischen geht es auch an die Reserven. Nur so ist an den insgesamt 31 Ausgabestellen genug Essen da. 101 Europaletten: Um diese Menge schrumpften die Vorräte an nur einem Tag im September.

Dass die Hamburger Tafel überhaupt so viel lagern kann, ist einerseits ein Vorteil. Für Hellwege ist es auch ­eine Bürde. Die Stromkosten für das Lager und die vier Kühlhäuser: derzeit unberechenbar. Der Sprit für die 15 Fahrzeuge: teuer wie nie zuvor. Gleichzeitig sind da immer mehr Kinder, Frauen und Männer, die hungern müssen, wenn die Tafel ihnen nicht hilft.

Wolfgang Hennig hat einige von ­ihnen getroffen, als er bei der Hilfs­aktion für geflüchtete Ukrainer:innen mit anpackte. „Viele ältere Menschen, viele Mütter mit kleinen Kindern. Das habe ich nicht so einfach weggesteckt“, sagt der 68-Jährige.

140 Ehrenamtliche helfen bei der Hamburger Tafel

Hennig ist seit elf Jahren bei der Tafel, angefangen hat er in einer Aus­gabestelle. Später half er als Schlossermeister. Dann fand er eines Morgens seinen Namen auf dem Tourenplan wieder. Hennig lacht darüber. „Ich hätte ja auch ablehnen können.“ Er meint aber, Ehrenamt gehört dazu. Bei der Tafel übernimmt er inzwischen zwei Schichten: Montags um 7.30 Uhr bricht er mit dem Sprinter auf Richtung Blankenese und Osdorf, von Supermarkt zu Supermarkt, letzte Station ist eine Ausgabestelle in Hamm, da lädt er alles wieder aus, um halb eins ist er fertig. Mittwochs ist Treffpunkt um 5.30 Uhr am Großmarkt. Auch dort hievt er Kiste um Kiste in den Transporter. Hennig hat Glück. „Ich hab ja die Montagstour, da kriegen wir den Wagen immer voll“, sagt er. Andere kämen oft mit nur einem Drittel Ladung zurück.

140 Ehrenamtliche arbeiten regelmäßig bei der Hamburger Tafel mit, im Fahrdienst und im Lager etwa. Die Hamburger Tafel ist ein Logistikverein, der andere Tafeln beliefert, aber keine eigenen Ausgabestellen betreibt. In der Geschäftsstelle arbeiten fünf Festan­gestellte, darunter der Geschäftsführer.

Seit zwei Jahren macht Hellwege den Job, seit zweieinhalb Jahren ist Krise. Fast hätte Corona das Versorgungssystem kollabieren lassen. Hell­wege und seine Kolleg:innen sahen eine Ausgabestelle nach der anderen die weiße Fahne hissen. Unter Hochdruck organisierte das Team Aushilfen, packte Kisten vor, um Handgriffe und Infektionswege zu reduzieren, und stampfte ein Schutzkonzept aus dem Boden. „Wir dachten gerade: Jetzt kommen wir endlich wieder in ruhigere Gewässer“, sagt Hellwege. „Und genau in dem Moment fängt – Entschuldigung – dieser Scheiß-Krieg an.“

Hellwege will aber nicht klagen. Den Fehler im System zu ergründen, dafür habe er keine Zeit. „Jeder hat seine ­Aufgabe.“ Seine bestehe unter anderem darin, die Ehrenamtlichen in dieser ­Lage nicht zu überlasten. Not, das ist kein Begriff, den Hellwege auf sich selbst anwenden würde. Die echte Not ist da draußen.

Inflation und Energiepreise treiben viele in die Armut

Vor Corona half die Hamburger Tafel wöchentlich etwa 30.000 Menschen, heute sind es mehr als 40.000. Hinzugekommen sind nicht nur die Geflüchteten, die ein Anrecht auf Sozialleistungen haben. Vor allem Inflation und Energiepreise treiben viele in die Armut. Fast ein Drittel der Tafel-Nutzer:innen sind Alleinerziehende, fast jede:r Zwanzigste von ihnen ist auf die Lebensmittelspenden angewiesen, ergab eine Studie des Wirtschafts­forschungsinstituts DIW Ende Sep­tember. Ein weiteres knappes Drittel ist schwerbehindert. Ein Viertel der Bedürftigen an den Lebensmittelausgaben sind ­Kinder und Jugendliche.

Während ihre Zahl steigt, sinkt die Menge der Lebensmittelspenden. „Das ist unser größtes Problem“, sagt Hellwege. Die Gründe seien teils erfreulich. Die Läden planten nachhaltiger, so bleibe weniger übrig. Aber zurzeit müssen auch viele beim Einkauf sparen. Das zeigt sich bei verbilligter Ware. „Diese Angebote werden komplett ausgenutzt“, erklärt Hellwege. Vieles davon wäre früher womöglich der Tafel gespendet worden. Mit einer Aktion Ende September machte der Verein darauf aufmerksam: In drei Einkaufszentren sammelten Tafel-Teams Lebensmittelspenden von Hamburger Bürger:innen und riefen Firmen zur Hilfe auf. Schon beim ersten Termin wurden an jedem Standort zwei Transporter voll. Aber das grundsätzliche Problem ist damit nicht gelöst. In ganz Deutschland be­finden sich die Tafeln in dieser Notlage.

Dabei suchen längst nicht alle, die in Armut leben müssen, die Tafel auf. Nach Hellweges Erfahrung melden
sich die meisten erst, wenn es nicht mehr anders geht. Doch wer jetzt fragt, kommt zu spät.

An 90 Prozent der Ausgabestellen in Hamburg ist Aufnahmestopp, trotzdem rufen immer wieder Menschen an. „Sehr oft müssen wir sagen: ,Wir können dir nicht helfen.‘“ Das sind die schwersten Momente, sagt Hellwege. „Da wird geweint am Telefon, im Hintergrund hört man die Kinder. Das nimmt uns alle hier sehr mit.“ Er habe schon über psychologischen Beistand fürs Team nachgedacht, dann aber doch darauf verzichtet. Er wolle dem Problem nicht zu viel Raum geben. Lieber lenkt er den Blick auf die Erfolge.

Wenn Hellwege vom Job erzählt, kommt er fast ins Schwärmen: eine sinnstiftende Aufgabe, ein tolles Team. Seine Kolleg:innen sind Menschen mit Doktortitel, ehemalige Obdachlose, Schüler:innen, Männer und Frauen in Rente. Mittags wird gemeinsam gegessen, danach geht es wieder mit Energie an die Arbeit. Nur der Moment, an dem alles geschafft ist, kommt nie.

Die Stromkosten haben sich für die Hamburger Tafel verdoppelt

Stattdessen neue Probleme: „Ich hab’s ausgerechnet. Im vergangenen Jahr: 16.000 Euro Stromkosten“, sagt Hellwege. Am 1. September hatte er schon 18.000 Euro auf der Uhr, und die Steigerungen kommen erst noch. „Ich gehe davon aus, dass ich fast verdopple. Das heißt: fast 32.000 Euro bis Jahresende nur für Strom.“ Woher das Geld kommen soll, weiß er noch nicht. „Wir sind rein spendenfinanziert“, sagt er. Fördermitgliedschaften deckten ­bislang nur ein Sechstel der laufenden Kosten.

Dabei verlässt sich Hamburg auf die Ehrenamtlichen: Wer Geld vom Jobcenter bekommt, erhält dazu den Tipp, sich an die Tafel zu wenden, wenn es eng wird. Trotzdem plant die Sozialbehörde keine Notfallförderung. Die Tafeln seien ein Zusatzangebot, erklärt Behördensprecher Martin Helfrich. Wer den Lebensunterhalt nicht selbst zahlen kann, sollte mit Hartz IV oder Grundsicherung auskommen.

Das haut sehr oft nicht hin, weiß Hellwege. Trotzdem hielte er es für keine gute Lösung, die Tafel mit Steuergeld am Laufen zu halten. „Wenn staatliche Hilfen in die Tafel fließen, dann bezahlen sie das Pflaster, aber heilen nicht die Wunde“, sagt er. Zudem sei die Unabhängigkeit der Tafel auch ein Wert. Viele, so vermutet Hellwege, spenden und helfen gerade deshalb. „So entsteht dieses Gefühl: Dann machen wir das eben. Darin steckt ne Menge Power.“

Artikel aus der Ausgabe:

Tafeln vor dem Kollaps

Schwerpunkt Ehrenamt: Wie mehr als 1200 Freiwillige Hamburgs Obdachlosen helfen und wieso das problematisch ist. Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) spricht im Interview über die Überwindung der  Obdachlosigkeit. Außerdem: Wieso Antiquariate ums Überleben kämpfen und manchen Geflüchteten aus der Ukraine die Abschiebung droht.

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Autor:in
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein schreibt als freie Redakteurin für Politik, Gesellschaft und Kultur bei Hinz&Kunzt - am liebsten über Menschen, die für sich und andere neue Chancen schaffen.

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