Auf Bahnsteigen kreuzen sich die Wege vieler Menschen, die sich sonst kaum begegnen würden. Für diejenigen, die nicht mehr wissen wohin, bietet die Bahnhofsmission Hamburg seit 125 Jahren einen Ort der Zuflucht.
Bahnhöfe können gefährliche Orte sein. Auf die jungen Frauen, die sich Ende des 19. Jahrhunderts per Bahn vom Land auf den Weg in die Städte machten, um Arbeit zu finden, warteten dort Ganoven und Mädchenhändler. Statt bei der versprochenen Arbeit in einer Fabrik oder als Dienstmädchen in Hamburg fanden sie sich in Bordellen und Bars wieder.
Gegen diesen Menschenhandel gründeten engagierte christliche Frauen eine Untergruppe der internationalen Bewegung „Freundinnen junger Mädchen“. Sie vermittelten erfolgreich Unterkünfte und seriöse Arbeit. Das überzeugte auch die evangelische Kirche in Hamburg. Ihre Innere Mission, der Vorläufer der Diakonie, unterstützte den Kampf gegen den Mädchenhandel; gemeinsam wurde 1895 die Bahnhofsmission Hamburg gegründet.
Bis heute können sich Menschen darauf verlassen, dass hier jemand für ihn oder sie da sein wird. Bei den 90 Mitarbeitenden der Bahnhofsmission finden die Verzweifelten und Einsamen, die Armen und Wohnungslosen der Stadt ein offenes Ohr, Trost und Zuspruch. Wer praktische Hilfe braucht – einen Platz zum Aufwärmen, die Vermittlung eines Schlafplatzes für die Nacht –, wird weitervermittelt an eine der Hilfen, die Hamburg für Notlagen anbietet.
Natürlich bekommt man hier auch Fahrplanauskünfte, Erste Hilfe bei kleinen Verletzungen, Unterstützung beim Umsteigen oder bei der Begleitung von allein reisenden Kindern. Doch Kerngeschäft der Bahnhofsmission ist die Vermittlung von Hilfen. Sie fungiert als Schaltstelle zwischen der Not von Menschen und den Angeboten des Hilfesystems in der Stadt – an 365 Tagen im Jahr, 24 Stunden täglich sind Mitarbeitende und Ehrenamtliche ansprechbar.
„Wir lassen die Menschen in der Krise nicht allein.“– Axel Mangat
Die Coronakrise hat diese Vermittlung an ihre Grenzen gebracht. Aufgrund der Pandemie blieben viele der Einrichtungen im Hilfe-Netzwerk geschlossen, zum Beispiel die Tagesaufenthaltsstätten für Wohnungslose oder Anlaufstellen für psychisch kranke Menschen. Damit entfällt für die Bahnhofsmission die Möglichkeit, Menschen in die Hilfen zu vermitteln, die sie dringend brauchen. „Unsere Besucher wissen, dass sie gerade oft nicht mehr erwarten können als eine Tasse Kaffee“, sagt Axel Mangat, Leiter der Bahnhofsmission. Sowohl für die Gäste als auch für die Mitarbeitenden sei diese Hilflosigkeit schwer zu ertragen.
Am 1. Oktober 2020 besteht die Bahnhofsmission Hamburg seit 125 Jahren. Doch nach Feiern ist hier keinem zumute. „Corona ist unsere Jubiläumskrise“, sagt Axel Mangat mit Galgenhumor. Der Diakon ist dankbar, dass die Bahnhofsmission trotz Corona keine Stunde geschlossen war. „Wir lassen die Menschen in der Krise nicht allein“, erklärt der 45-Jährige. „Das ist unser Wesen, unsere Zusage, unsere Verlässlichkeit: Wir sind da.“
Seit Corona bleiben die Stammgäste der Bahnhofsmission aus, haben sie festgestellt. Dafür steigt der Anteil an psychisch Kranken, an Menschen mit Suchtproblemen, „Verzweifelte und Gestrandete,“ sagt Axel Mangat. Von der größten Krise in der Geschichte der Bahnhofsmission mag er trotzdem nicht reden. „In den 125 Jahren gab es immer wieder neue Notlagen, auf die die Bahnhofsmission reagieren musste.“
Das hat sie gegen alle Widerstände immer wieder getan. Die Weltwirtschaftskrise der 1920er-Jahre brachte Arbeitslosigkeit und noch mehr Armut. 1939 schlossen die Nationalsozialist*innen die Bahnhofsmissionen in ganz Deutschland – Hilfen sollten nur „völkisch wertvollen Menschen“ zukommen.
Direkt nach dem Kriegsende 1945 wurden die Bahnhofsmissionen neu organisiert. Wohnungslose, Hungernde, Heimkehrer*innen und Geflüchtete fanden hier Trost und materielle Hilfe. Bis zum Mauerbau 1961 suchten auch die sogenannten Ostzonen-Flüchtlinge am Bahnhof erste Unterstützung – genau wie später die wachsende Zahl von Gastarbeiter*innen, Aussiedler*innen und Asylsuchenden.
Die Struktur der Hilfen änderte sich, denn immer mehr Drogenabhängige und Menschen mit psychischen Problemen tauchten in der Bahnhofsmission auf. Auch der wachsenden Zahl von Obdachlosen aus Osteuropa, Folge der EU-Osterweiterung, trägt die Arbeit der Bahnhofsmission Rechnung. Mit der Vielfalt der Aufgaben wurden die Räume im Bahnhof zu eng. Seit März 2018 ist die Bahnhofsmission provisorisch in knallblauen Containern vor dem Bahnhof untergebracht, bis sie Ende 2021 in einen Neubau am Glockengießerwall einziehen soll.
Im Moment läuft der Kontakt zu den Besucher*innen nur durch die geöffneten Fenster der Container – mehr lassen die Hygieneschutzbedingungen nicht zu. Mal wird ein Becher Kaffee herausgereicht, mal eine Information gegeben. So oft sie können, gehen die Mitarbeiter*innen raus in den Bahnhof und drehen dort ihre Runden – in ihren blauen Westen sind sie gut erkennbar und werden oft angesprochen. „Die Bahnhofsmissionen leben vom Vertrauen der Gesellschaft darauf, dass die Menschen hier Hilfe bekommen“, findet Axel Mangat. „Hoffnung“ steht in vielen Sprachen über dem Eingang dieses Container-Provisoriums. Damit kennen sie sich aus bei der Bahnhofsmission – seit 125 Jahren.