Hamburg braucht Platz für neue Wohnungen. Hamburg braucht aber auch sein Grün, erst recht in Zeiten des Klimawandels. Ein Fall in Wilhelmsburg zeigt, wieso es deshalb kracht.
Eine seit Jahrzehnten ungenutzte Brache im Norden von Wilhelmsburg, eine zufällige Ansammlung von Sträuchern und Bäumen – die kann doch weg, oder? Das Spreehafenviertel soll hier entstehen, mit 1100 Wohnungen. Häuser für Baugemeinschaften sind geplant, auch dringend benötigte Sozialwohnungen. Hamburg wächst und braucht mehr Platz für Wohnraum – den die IBA, ein Tochterunternehmen der Stadt, hier schaffen will.
Wer sollte dagegen etwas haben angesichts extrem steigender Mieten und herrschender Wohnungsnot?
Matthias vom Heede und Regina Leidiger zum Beispiel. Ihre Initiative „Waldretter“ will das Bauprojekt verhindern. Die Waldretter wollen, dass der Wald, der hier seit der Sturmflut von 1962 gewachsen ist, genauso wild bleibt, wie er ist. „Wir können uns hier angucken, wie Natur sich entwickelt, wenn wir uns mal raushalten“, sagt Leidiger und zählt die Bäume auf, die hier wachsen: Pappeln, Weiden, Eschen, Birken. Die Wilhelmsburger Kita-Kinder könnten hier wirkliche Natur erleben. Ganz besonders ist das in Hamburg.
Zählten allein Umwelt- und Klimaschutz, müsste der „Wilde Wald“ erhalten bleiben. Die Bedeutung von Grün- und Waldflächen in einer Großstadt ist, insbesondere mit Blick auf den Klimawandel und die zu erwartenden Hitzewellen, nicht zu unterschätzen. Die Pflanzen spenden Schatten und verhindern so, dass der Boden sich aufheizt. Auch die Verdunstung an ihren Blättern trägt zur Abkühlung bei. Man spürt das sofort, wenn man an einem 30 Grad heißen Tag in den Wilhelmsburger Wald eintaucht.
Ein Ersatzwald weit vor den Toren der Stadt
Es ist nicht so, dass es dafür im Hamburger Senat keine Einsicht geben würde. Zum Beispiel steht in dessen Klimaplan aus dem Jahr 2015: „Auch wegen ihrer positiven stadtklimatischen Wirkungen sind die vorhandenen Waldflächen in Hamburg unbedingt zu erhalten.“ Seien Baumfällungen „unvermeidbar“, sind Ausgleichsmaßnahmen vorgesehen. Im Falle des Wilhelmsburger Wilden Walds soll hinter Buchholz in der Nordheide ein neuer Wald gepflanzt werden. Wie das dem Hamburger Stadtklima helfen soll, bleibt ein Geheimnis der Behörden.
Dabei hatte sich Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) im vergangenen Sommer sogar mit Umweltschutzorganisationen auf den „Vertrag für Hamburgs Stadtgrün“ geeinigt. Der untersagt die Bebauung von Grünflächen in der Innenstadt für die Zukunft. „Der Vertrag stellt sicher, dass die Stadt nicht zu Lasten des Grüns wächst“, versprach Kerstan damals. Aber nicht nur in Wilhelmsburg fragt man sich, wie ernst er das meinte.
Der Vertrag gilt ohnehin nicht für die ganze Stadt, sondern nur innerhalb des sogenannten „Zweiten Grünen Rings“. Bauvorhaben wie der neue Stadtteil Oberbillwerder, der auf Wiesen und Feldern in Bergedorf entstehen soll, oder die geplante Bebauung von Kleingärten im Langenhorner Diekmoor bleiben davon unberührt.
Fast überall, wo Grün versiegelt werden soll, bilden sich Initiativen, die dagegen protestieren. Sie haben ein Volksbegehren auf den Weg gebracht. „Rettet Hamburgs Grün“ will erreichen, dass alle Grünflächen in der Stadt ab einem Hektar Größe nicht mehr bebaut werden dürfen.
Senat wehrt sich gegen Volksbegehren zur Rettung von Hamburgs Grün
Dagegen wehrt sich der Senat allerdings mächtig. Er befürchtet, den Wohnungsbedarf nicht mehr decken zu können, hätte das Volksbegehren Erfolg. Würde man stattdessen im Umland bauen, argumentiert die Stadtentwicklungsbehörde gegenüber Hinz&Kunzt, führte das eben dort zu Versiegelung und zusätzlich zu mehr Pendelverkehr. Gerade hat der Senat Verfassungsbeschwerde eingelegt und den Protest damit zumindest ausgebremst. Für die Volksinitiative ist das ein Affront, insbesondere fühlt man sich von den mitregierenden Grünen verraten. „Hitzetote in Hamburg in den nächsten Jahrzehnten werden billigend in Kauf genommen“, lautete der drastische Konter.
Während Behörden und Bürger:innen streiten, eskaliert der Klimawandel weiter. Erst im Juli wurde in Hamburg ein neuer Allzeithitzerekord aufgestellt: 40,1 Grad in Neuwiedenthal. Darf man da noch ganze Wälder fällen, um Wohnungen zu schaffen?
„Sie könnten gleichermaßen die Frage stellen, ob man heutzutage in Anbetracht von steigenden Mieten die Chance auf bezahlbaren Wohnraum für die Menschen dem alleinigen Schutz von Bäumen opfern darf“, entgegnet Arne von Maydell, Pressesprecher der IBA. Die richtige Frage für die Stadtplanung sei vielmehr, wie in einer sich wandelnden Stadt ausreichend Grünflächen erhalten werden oder eben neu entstehen können.
Einige Bäume sollen erhalten bleiben
Dann listet er auf, wo bei den Bauprojekten der IBA in Wilhelmsburg neues Grün geplant ist. Auch im Spreehafenviertel sollen einzelne „erhaltenswerte“ Bäume stehen bleiben, dafür scheue die IBA keine Kosten für aufwendige Kurven und Umwege in den geplanten Straßen. Auch der an den Wald grenzende Grünzug am Ernst-August-Kanal soll größtenteils erhalten bleiben.
Grün und schön, aber kein Vergleich mit einem über Jahrzehnte gewachsenen Wald und seinen Qualitäten, finden Wilhelmsburgs Waldretter. Sie plädieren dafür, dass die Stadt bei der Suche nach Flächen für den Wohnungsbau neue Wege geht. „Wir sind überhaupt nicht gegen Wohnungsbau“, sagt Matthias vom Heede. Warum nicht Häuser auf Stelzen über Parkplätzen von Supermärkten bauen? Oder, wie schon länger diskutiert, entlang der großen Straßen? Links und rechts der Magistralen erkennt auch die Stadtentwicklungsbehörde „ein erhebliches Potenzial zur Aktivierung und Verdichtung im Bestand“, wie sie auf Nachfrage erklärt. Und überhaupt würden die meisten Neubauten innerhalb bestehender Siedlungen und nicht im Grünen entstehen. Dem Wilden Wald hilft es allerdings wenig, dass seine geplante Fällung eine Ausnahme wäre.