Für die Polizei ist Betteln in der Innenstadt seit Neuestem ein Problem: Mit Platzverweisen geht sie gegen Menschen vor, die um Geld bitten. Die sozialen Probleme werden dadurch nicht gelöst.
Als die Läden in der Mönckebergstraße ihre Türen öffnen, sitzt Veronika vor einem Schuhgeschäft. Vor ihr steht eine leere Packung Stracciatella-Eis, darin liegen an diesem Samstag ein paar Münzen. Fünf bis zehn Euro am Tag brauche sie zum Überleben, sagt Veronika. Die 54-Jährige bettelt hier, bis sie die Summe zusammen hat; manchmal braucht sie zwei Stunden, manchmal bis nach Ladenschluss. Jeden Tag seit vier Jahren sitzt Veronika hier. Zwei Jahre davon schlief sie ein paar Ecken weiter. Immer wenn sie von ihrem Platz vor dem Schuhgeschäft in Richtung Bahnhof schaute, saßen dort noch andere Menschen wie sie, mindestens vier. Heute ist sie die Einzige. Wo sind die anderen hin? Ronny, der auf der anderen Straßenseite sitzt, hat eine Ahnung: Er dürfe zwar bleiben, sagt er, aber die Polizei schicke in letzter Zeit immer wieder Menschen weg, die hier vor den Geschäften um Almosen bitten.
Seit Anfang März häufen sich solche Berichte. Immer wieder hören wir: Polizist:innen würden Menschen ansprechen und auf ein „neues Gesetz“ hinweisen, das Betteln nun verbiete. Der Hamburger Senat bestreitet zwar, dass diese Worte fallen würden und betont, dass sich an der Rechtslage nichts geändert habe. Aber dass die Polizei eine härtere Gangart gegen bettelnde Menschen eingelegt hat, gibt der Senat zu.
Was die Polizei lange geduldet hat, wird plötzlich geahndet.
„Zu den Aufgaben der Polizei und somit auch des Polizeikommissariates (PK) 14 gehört seit jeher, die negativen Auswirkungen der Obdachlosigkeit für alle Beteiligten im Rahmen der polizeilichen Zuständigkeit so gering wie möglich zu halten.“ So lautet die Begründung der Stadtregierung für den neuen Kurs. Auf eine Anfrage der Linken-Politikerin Stephanie Rose erklärt sie, Ende vergangenen Jahres hätten sich Beschwerden über die „Begleiterscheinungen von Obdachlosigkeit“ gehäuft, von Bürger:innen, Wirtschaftsverbänden und Handeltreibenden: „Diese problematisieren insbesondere die Begleiterscheinungen der Obdachlosigkeit, wie ein erhöhtes Aufkommen an Unrat und Exkrementen sowie Personen, die erheblich alkoholisiert wirken.“
Statt den obdachlosen Menschen endlich zu helfen, soll nun offenbar die Polizei die Folgen der Armut verstecken. Gegenüber Hinz&Kunzt hatte diese erst von einer „Sensibilisierung“ ihrer Einsatzkräfte gesprochen, die sie vorgenommen habe. Später nennt sie es: „Auffrischung der Kenntnisse“ über die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Jeden Morgen gebe es eine entsprechende Lagebesprechung. „Es liegt doch auch in der Natur der Sache und ist nicht ungewöhnlich, dass wir Einsatzkräfte zur Auffrischung der Kenntnisse gelegentlich beschulen, fortbilden oder sensibilisieren, gerade im Lichte entsprechender Lageerkenntnisse“, erklärt ein Polizeisprecher. „Das läuft bei uns nicht anders als in der Privatwirtschaft.“ Übersetzt heißt das: Was die Polizei lange geduldet hat, wird plötzlich geahndet.
Wer hat die Bettelverbote angeordnet?
Viele obdachlose Menschen würden durch so ein Vorgehen das letzte Vertrauen in Behörden und Institutionen verlieren, klagt der Caritas-Straßensozialarbeiter Julien Peters. Viele seien verängstigt und erschrocken. „Ich konnte zuletzt kaum Menschen an ihren gewohnten Plätzen antreffen. Das erschwert meine Arbeit als Sozialarbeiter sehr“, sagt Peters.
An einem Donnerstag, kurz vor Ladenschluss, sitzt Danny neben dem „Mö“-Imbiss auf einer Decke auf dem Boden. Vor ihm liegt Roxy, eine schwarze Labradorhündin. Ob ihn die Polizei auch schon mal angesprochen habe? Ja, sagt Danny, er dürfe bleiben. Aber seit Anfang März würden hier immer wieder Menschen weggeschickt. „Eine Anordnung von ganz oben“, hätten die Einsatzkräfte ihm gesagt. Von wie weit oben, darauf gibt es keine klare Antwort. Die Innenbehörde teilt mit, der Polizei keine solche Anordnung gegeben zu haben, sie habe das selbst entschieden. Aber wer in der Polizei? Die Leitung des innenstädtischen Polizeikommissariats oder womöglich gar das Präsidium? Diese Frage will der Sprecher Hinz&Kunzt nicht beantworten. „Mit Verlaub: Das geht zu weit“, findet er.
Für die Menschen auf der Straße macht es auch keinen Unterschied. Sie versuchen, sich einen Reim auf das neue Gesetz zu machen, das keines ist. Ralf, ein Freund von Danny, sagt: „Als ich vor dem Edeka in der Spitalerstraße saß, habe ich jeden Tag den Weg vor dem Eingang mit einem kleinen Handbesen sauber gemacht.“ Er glaubt, was hier viele sagen: Wer Ordnung auf der Straße halte, der dürfe bleiben.
Was erlaubt ist und was nicht, steht im Hamburgischen Wegegesetz. Der Senat erklärt es so: Betteln darf man, „wenn es sich lediglich um das Ansprechen von Passantinnen und Passanten mit der Bitte um Spenden handelt, ohne diese zu behindern oder zu belästigen“. Wer sich jedoch dauerhaft auf einem festen Bettelplatz niederlasse und dabei womöglich noch Gegenstände aufstelle, verstoße gegen das Gesetz: „In diesen Fällen liegt eine genehmigungspflichtige Sondernutzung der öffentlichen Wege vor, die nicht erteilt werden kann, da das Campieren auf öffentlichen Wegen generell eine Behinderung der anderen Verkehrsteilnehmenden darstellt.“
Soweit die Theorie. In der Praxis scheint es in der Rechtsauslegung noch weitere Feinheiten zu geben. „Das Einschreiten erfolgt immer unter genauer Betrachtung des konkreten Einzelfalls“, erklärt die Polizei. Der 45-jährige Lücke ist so ein Einzelfall. Er sitzt an einem Dienstagvormittag unter dem Vordach eines Hotels in der Langen Reihe. Eisiger Wind pfeift den Fußweg entlang. „Gewöhnungssache“, sagt Lücke. Er habe Jahrzehnte auf der Straße verbracht, seit vier Jahren bettle er hier, meist gemeinsam mit seiner Freundin. In den vergangenen Wochen sei das jedoch schwierig geworden: Dreimal seien sie freundlich, aber bestimmt von der Polizei vertrieben worden – mit dem Hinweis, dass Betteln zu zweit nicht mehr erlaubt sei. „Scheiße“, findet das Lücke. „Wir sind ja nicht zum Spaß hier.“
Die Oppositon kritisiert das Vorgehen der Polizei
Die Opposition in der Hamburgischen Bürgerschaft benutzt zwar andere Worte, aber in der Sache ist man sich mit Lücke einig. „Der Senat kriminalisiert Armut, vertreibt Bettler:innen und versteckt sich hinter formal-juristischen Spitzfindigkeiten“, kritisiert die linke Sozialpolitikerin Stephanie Rose. Sollte es tatsächlich mehr Beschwerden als früher geben, würde die Vertreibung das Problem nicht lösen, sondern zusätzlich verschärfen: „Denn durch dieses Vorgehen werden die betroffenen Menschen für soziale Hilfen unerreichbar.“ Die CDU spricht gar von „blindem Aktionismus“. Ihr sozialpolitischer Fraktionssprecher Andreas Grutzeck sagt: „Wenn der Senat glaubt, dass Einsätze der Polizei mit dem Ziel, die bettelnden Personen zu vertreiben, die Probleme lösen, ist er naiv.“
Auch für Hinz&Kunzt sind die neuen Polizeieinsätze keine Lösung. „Vertreibung kann nicht die Antwort auf die Frage sein, wie wir Obdachlosigkeit und die damit verbundenen Probleme bekämpfen“, sagt Geschäftsführer Jörn Sturm. Vom Senat vermisst er einen klaren Plan, wie er das Ziel von EU und Bundesregierung, bis 2030 allen eine eigene Wohnung zu verschaffen, erreichen will. „Stattdessen macht der Senat den Menschen das Leben schwer, denen gar nichts anderes übrig bleibt, als Lagerstätten zu bilden, weil sie keine Perspektiven haben“, sagt Sturm. Mit Armut konfrontiert zu werden möge unangenehm sein, meint Dirk Ahrens, Hinz&Kunzt Herausgaber und Diakonie-Landespastor. „Aber was unangenehm ist oder stört, ist noch lange nicht verboten. Armut ist ein soziales Problem, das sozialpolitisch gelöst werden muss.“
Lücke und seiner Freundin hat die Polizei jedenfalls nicht geholfen. Auch aus dem Stadtbild verschwunden sind sie nicht. Sie seien in die Schanze gefahren oder auf die Reeperbahn, erzählt Lücke, und haben dort gebettelt. Es gibt eine Regel, von der zumindest die Menschen auf der Straße erzählen: Wer vom Betteln leben muss, geht dorthin, wo viele Leute sind.