Der Entwurf für das Gesamtkonzept für die Wohnungslosenhilfe setzt auf kleine Pilotprojekte. Doch an der Situation von 5400 Obdach- und Wohnungslosen in den öffentlichen Unterkünften ändert sich voraussichtlich nichts. Ein Kommentar von Chefredakteurin Birgit Müller.
(aus Hinz&Kunzt 235/September 2012)
„Im Jahr 2015 wird die Hälfte der 5400 Obdach- und Wohnungslosen, die in unseren Unterkünften leben und einen Anspruch auf eine Wohnung haben, wieder in ihren eigenen vier Wänden leben“, sagt Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) bei der Vorstellung des Gesamtkonzeptes der Wohnungslosenhilfe in Hamburg. „Darauf haben Sie mein Wort.“ Ungläubiges Murmeln im Plenarsaal der Bürgerschaft. „Damit wir diese Zielvorgabe erreichen, haben wir den Kooperationsvertrag mit der Saga GWG und anderen Baugenossenschaften erhöht: Sie werden diesem Personenkreis jährlich 1000 Wohnungen zusätzlich zur Verfügung stellen, mindestens! Außerdem …“ Weiter kommt der Senator nicht. Tosender Applaus bricht los. Oppositionsführer Dietrich Wersich (CDU) bahnt sich den Weg zu Scheele, klopft ihm auf die Schulter, entreißt ihm das Mikro und fügt hinzu: „Und selbst wenn Sie nicht mehr an der Regierung sein sollten, werter Kollege: Dann machen wir in diesem Sinne weiter! Denn schließlich sparen wir auf diese Weise langfristig ja auch Geld.“ Sie ahnen es schon: Diese Bürgerschaftssitzung hat so leider nicht stattgefunden.
Wahr ist, dass dieser Tage der Entwurf für ein Gesamtkonzept der Wohnungslosenhilfe vorgelegt wird – und wenn der so durchgeht, dann bleibt für die Mehrheit der 5400 wohnberechtigten Menschen auf der Straße und in den öffentlichen Unterkünften alles beim Alten und sie werden bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auf eine Wohnung warten müssen. Und wenn die Bewohner der Unterkünfte nicht ausziehen können, haben auch Obdachlose wenig Chancen, einen Platz in einer Unterkunft zu ergattern. Denn das „Gesamtkonzept“ geht völlig an ihnen vorbei.
Genügend Wohnungen? Fehlanzeige!
Ja, es gibt ganz schöne kleine Einzelmaßnahmen. Um nur einige im Bereich Unterbringung zu nennen: Wohnprojekte für Frauen und Familien und eins für Jungerwachsene unter 25 Jahren. Und es werden bis Ende 2013 zusätzlich 500 neue Unterkunftsplätze entstehen. Aber genügend Wohnungen? Fehlanzeige!
Der erhoffte Befreiungsschlag für die Alteingesessenen und Dauerbewohner der Unterkünfte bleibt aus. Wir, die Mitarbeiter der Wohnungslosenhilfe, hatten beispielsweise gefordert: 1000 Wohnungen jährlich zusätzlich für diesen Personenkreis. Denn bislang leben viele jahrelang in den Unterkünften. Das ist nicht nur teuer, sondern wirkt sich auch negativ auf die Menschen aus: Sie werden immer passiver und unselbstständiger. Es gibt sogar einen Fachbegriff dafür: Hospitalismus.
Was den Menschen am meisten fehlt, ist ein eigenes Zuhause. Aber genau dieser Punkt wird im Konzeptentwurf lapidar abgehandelt. Ohne jegliche Zielvorgaben. Dabei hat Hamburg eine Geheimwaffe gegen Wohnungslosigkeit: die Saga GWG. Sie muss die Schlüsselrolle spielen und in die Pflicht genommen werden. Das städtische Wohnungsbauunternehmen und zehn andere Wohnungsbaugesellschaften haben schon vor Jahren einen Kooperationsvertrag mit der Stadt geschlossen. Den hatte 2004 noch Ex-Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) in die Wege geleitet. Normalerweise stellten und stellen die Wohnungsbaugesellschaften jährlich rund 700 Wohnungen für Wohnungsnotfälle zur Verfügung. Laut Vertrag sollten sie jährlich 600 zusätzlich bereitstellen. Erfüllt wurde der Vertrag nie. Und der Bau von Sozialwohnungen kam unter den CDU-geführten Senaten vollständig zum Erliegen. Die Lage spitzte sich immer mehr zu, weil immer mehr Sozialwohnungen aus der Bindung fallen (siehe Meldung).
Nach Amtsantritt 2011 hat Sozialsenator Scheele dem Vertrag wieder neues Leben eingehaucht, aber erfüllt wird er immer noch nicht. Und die alte Zahl von 600 zusätzlichen Wohnungen reicht aufgrund des Rückstaus nicht mehr aus. Inzwischen sprechen Fachleute von einer regelrechten „Verstopfung“ und davon, dass es keinerlei „Abfluss“ aus den Unterkünften mehr gebe. Wenn dieser Abfluss aber trotz Gesamtkonzept nicht mal geplant ist, dann nützen auch viele der schönen Einzelmaßnahmen wenig. Denn diese neuen Projekte machen nur Sinn, wenn danach eine Anschlussperspektive in Sicht ist und nicht wieder das nächste Projekt „verstopft“. Oder ist etwa geplant, dass die paar freien Wohnungen dann ausschließlich an die Personen gehen, die in den neuen Projekten leben?
In der Einrichtung lieblos verwahrt oder aktiv unterstützt? Das ist Glückssache
Problematisch ist auch, dass es keine Zielvorgaben für die Arbeit des städtischen Unterkunftsbetreibers fördern & wohnen gibt. Kein Wort darüber, dass es Glückssache ist, ob man in einer Einrichtung lieblos verwahrt oder aktiv unterstützt wird, ob die Fachstelle mit Wohnungsangeboten ins Haus kommt oder ob es der Einrichtung schietegal ist, ob Angebote die Bewohner wirklich erreichen. Kein Wort auch, ob der Betreuungsschlüssel (ein Mitarbeiter auf 97 Bewohner!) überhaupt ausreicht.
Geld scheint in dem Entwurf keine Rolle zu spielen. Nirgendwo wird ernsthaft über Kosten gesprochen. Das unterstreicht den Eindruck, dass das Gesamtkonzept eine Art unverbindliche Willenserklärung ist. Sozialsenator Detlef Scheele hatte in einem Gespräch mit uns im Frühjahr gesagt – und das wollte er als gute Nachricht verstanden wissen – dass er in diesem Haushalt nicht bei den Obdach- und Wohnungslosen sparen müsse. Für den nächsten Haushalt könne er das nicht garantieren.
Aber ein ernstzunehmender Umbau des Systems wird Geld kosten, zumindest in den ersten Jahren. In München hat sich das Klotzen bezahlt gemacht. Zusammen mit freien Trägern und Investoren hat die Stadt die Zahl der Wohnungslosen so reduzieren können, dass jeder Wohnungslose spätestens nach zwei Jahren eine Wohnung hat.
Detlef Scheele muss Farbe bekennen
Das traut sich der Senator offensichtlich nicht. Im vorauseilenden Sparwahn wird gar nicht mehr durchkalkuliert, was Wohnungslosigkeit und deren Verfestigung den Steuerzahler kostet. In der Opposition hatte die SPD es noch gewusst und ein Papier vorgelegt, das auch heute noch als Grundlage für ein Gesamtkonzept gelten könnte (Link zum Papier der SPD unter www.hinzundkunzt.de/wohnungslos-konzept-2012).
Wir hoffen, dass die eingangs beschriebene Szene doch noch wahr wird. Wenn Detlef Scheele endlich Farbe bekennt und sagt, ob und wie er sich die Beseitigung der Wohnungslosigkeit vorstellt. Dafür muss er Finanzsenator Peter Tschentscher, Bausenatorin Jutta Blankau und die Saga GWG ins Boot holen. Keiner verlangt, dass ein derartig großes Thema binnen einer Legislaturperiode gelöst wird. Deshalb brauchen wir zusätzlich ein interfraktionelles Bekenntnis, in dem sich die Rathausparteien gemeinsam auf eine Politik verpflichten, die das Thema Wohnungslosigkeit in ein paar Jahren zu einer Randerscheinung macht. Diese Perspektive brauchen die Obdachlosen, und diese Perspektive brauchen auch wir, die wir mit Obdachlosen arbeiten.
Foto: Mauricio Bustamante