Das Projekt „Tausche Bildung für Wohnen“ zieht nach Steilshoop: Junge Menschen lernen und spielen mit Kindern aus benachteiligten Familien, dafür wohnen sie kostenlos im Stadtteil.
Ja, Steilshoop hat schon ein paar Visionen scheitern sehen. Als hier in den 1960er-Jahren eine Hochhaussiedlung wuchs, zehn Ringe, jeder umschließt einen Innenhof, galt das als Vorzeigeprojekt für urbanes Leben: Menschen nah beieinander, Häuser wie Aufstiegsversprechen, hoch in den Himmel.
Doch dann verließen viele Besserverdienende in den 1980er-Jahren die Trabantenstadt, Wohnungen standen leer, es gab Schlagzeilen über Jugendbanden und Kriminalität. Dieses Bild blieb erst einmal haften, an den rund 20.000 Menschen, die in Steilshoop auf 2,5 Quadratkilometern leben.
Nun, im August 2023, ist eine neue Vision hier eingezogen, eine erfolgreich erprobte allerdings. Die Initiative „Tausche Bildung für Wohnen“ startete 2015 im Ruhrgebiet, in Duisburg-Marxloh, danach in Gelsenkirchen-Üttendorf, Dortmund-Westerfilde, fünf Standorte gibt es heute insgesamt. Alle in benachteiligten Stadtteilen, in denen die Initiative durch kostenlose Lernförderung für mehr Bildungsgerechtigkeit und soziale Vermischung sorgen möchte.
Dass die Initiative nun nach Hamburg zog, liegt vor allem an Anna-Sophie Hippke, ehemals Standortleiterin in Duisburg, die vor zwei Jahren Mutter wurde und zurück in ihre Heimat wollte. Das Projekt nahm sie mit, als erste Social-Franchise-Unternehmerin von „Tausche Bildung für Wohnen“. Ihr Team verglich Hamburger Stadtteile, den Sozialindex, die Statistiken der Schulen, zum Beispiel: Wo leben viele Kinder in Grundsicherung, wo haben nur wenige einen Schulabschluss?
Die Wahl fiel auch auf Steilshoop, weil sie dort dieses Gebäude fanden: mitten im Viertel, aber seit zehn Jahren ungenutzt. Bodentiefe Schaufenster, helle Räume, große Küche. Einen Yoga- und Entspannungsraum wollen sie noch ausbauen, eine Kunstwerkstatt, ein Sportzimmer. Seit wenigen Wochen hängt am Fenster ein Plakat: „Anmeldung zur Lernförderung in unserer Tauschbar! Kostenlos. Kinder ab der 1. Klasse können zweimal pro Woche zu uns kommen, um gemeinsam zu lernen und zu spielen!“ 30 Kinder haben sich bisher angemeldet, bis zum Schuljahresende sollen es rund 80 werden.
Ein Junge sitzt in einem blauen Samtsessel, der farblich exakt zu seinem Fußballtrikot passt, rückt seine Brille zurecht, blickt auf die Karten vor ihm. Darauf sind lauter Monster, manche stehen inmitten von Herzen, andere sind ganz grün vor Wut. Wie es ihm geht? Mohamed wählt heute ein Monster mit Sonnenbrille aus, das tanzt.
Mohamed ist acht Jahre alt, er geht in die zweite Klasse. Ihm gegenüber sitzt John, 19 Jahre alt, der nun eine andere Monsterkarte danebenlegt, ebenfalls eine glückliche. Er freue sich, sagt John, dass Mohamed heute hier sei. Ob er schon schreiben könne? Mohamed springt auf: Klar! Ob er seinen Namen aufschreiben soll?
John ist einer der vier Bildungspat:innen in Steilshoop, bald sollen es sechs sein. Die meisten machen einen Bundesfreiwilligendienst oder ein Freiwilliges Soziales Jahr, langfristig sollen auch Studierende und Azubis dabei sein. Die arbeiten dann etwas weniger, wohnen aber auch im Viertel. Mindestens eine Person soll in Steilshoop aufgewachsen sein.
Die Bildungspatenschaft beginnt mit einem zweiwöchigen Kurs am Standort Witten. John sagt, er habe dort viel über die Philosophie des Projekts gelernt: „Wir helfen den Kindern beim Lernen und lernen dabei auch von ihnen.“ Am Anfang geht es immer darum, sich gut kennenzulernen. „Das hilft später auch bei der Lernförderung: zu wissen, wie man das Kind motivieren kann“, sagt
Leiterin Anna-Sophie Hippke.
John reicht Mohamed einen schwarzen Filzstift. Ob er noch etwas mehr aufschreiben könne als seinen Namen, seine Hobbys zum Beispiel? Mohamed würde sich jetzt gerne ein paar Tattoos mit dem Filzstift auf den Arm malen, aber nur solche, die auch für Muslime okay seien, sagt er. John fragt: „Bist du Muslim?“ „Ja“, sagt Mohamed.
Die beiden lernen sich gerade erst kennen, Mohamed, der Zweitklässler aus Steilshoop, und John, der Abiturient aus Rheinland-Pfalz. Sie machen noch ein Quiz (Mohamed mag den grünen Buzzer sehr, der laute Geräusche macht, wenn man ihn drückt), gehen nach draußen, rennen um die Wette zwischen den Wohnblocks, boxen ein bisschen vor dem Imbissladen gegenüber.
John hat vor zwei Jahren Abitur gemacht, und weil er nicht so genau wusste, wie es weitergehen soll, hat er sich für den Freiwilligendienst beworben. Er habe sich die Arbeit mit Kindern „immer ganz cool vorgestellt“. Bei diesem Projekt konnte er aber auch von zu Hause ausziehen, seit Ende August lebt er mietfrei in Steilshoop. Der Stadtteil tauscht Wohnungen gegen Bildung und die jungen Menschen ihre Bildung gegen Wohnraum. Finanziert wird das an allen Standorten durch Spenden und städtische Förderungen, die Wohnungen stellt das Immobilienunternehmen Vonovia zur Verfügung.
John und die anderen werden schon jetzt erkannt, im Supermarkt, auf dem Weg zur Arbeit. Sie können Vorbilder sein, sagt Leiterin Hippke, aber lernen selbst auch gesellschaftliche Realitäten kennen, die sie sonst vielleicht nie bemerkt hätten. „Schön ist immer zu sehen, dass sich nicht nur die Kinder verändern, sondern auch unsere Freiwilligen“, sagt sie.
John lebt in einer der zwei Bildungs-WGs, nur wenige Meter von der Tauschbar entfernt. Seine Mitbewohnerin ist Wendy, 23 Jahre alt, aus Kuba. Sie hat zuvor als Au-pair gearbeitet, seit Dezember wohnt sie in Deutschland.
Wendy sitzt in einem anderen Raum der Tauschbar, die Sonne strahlt ins Zimmer, zitronengelbe Wände, Musik läuft. Nosa, acht Jahre alt, wippt mit dem Kopf. Gestern hat er Wendy etwas Fußballspielen beigebracht, er musste ihr den Unterschied zwischen Passen und Schießen erklären. Nosa kennt das ja alles, er ist Stürmer. Ob er heute noch mal spielen wolle? Klar, aber nur mit seiner älteren Schwester Osarugue, die spiele nämlich richtig gut.
Nebenan sitzt der Vater von Nosa und Osarugue, er möchte noch zwei weitere Kinder anmelden. Sowieso haben sich in den ersten Tagen viele Eltern in der Tauschbar gemeldet, sagt Leiterin Hippke; manche fragen auch, ob es Nachhilfe für Eltern geben könnte, einige holen gerade selbst einen Abschluss nach. „Die Tauschbar soll sich nach den Wünschen des Stadtteils ausrichten“, sagt sie. An der Wand hängen ein paar Wunschzettel, die haben Kinder bei der Eröffnungsfeier aufgehängt: „Schwimmbad“ steht da, oder „100.000 Spiele spielen“. „Übernachtung in der Tauschbar“ oder „John schminken“.
Die Kinder“, sagt Anna-Sophie Hippke, „mögen John schon jetzt sehr.“ Sie klammern sich an seine Beine, weil sie nicht gehen wollen, sie freuen sich auf den Sport mit ihm. John nennen sie hier den Bewegungsexperten. Alle Bildungspat:innen bringen ihre eigenen Interessen und Talente ein, so verändert sich die Tauschbar jedes Jahr, mit allen neuen Freiwilligen. Und, wenn die Vision aufgeht, mit ihr auch der Stadtteil Steilshoop jedes Mal ein bisschen.