Lange Nacht der Literatur :
Günter Märtens liest

Heute braucht der 58-Jährige keine Drogen mehr, um sich gut zu fühlen. „Früher“, so Günter Märtens, „wollte ich damit die Leere in mir füllen.“ Foto: Andreas Hornoff.

Heute spielt er den Kontrabass bei Ulrich Tukurs Rhythmus Boys. Früher war Günter Märtens ein Junkie. In „Die Graupensuppe“ blickt der 58-Jährige auf diese bewegte Zeit zurück. Am Samstag liest er aus seinem Buch.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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250.000 D-Mark

Pi mal Daumen. Günter Märtens hat nicht Buch geführt. Aber eine Viertelmillion, das kommt schon hin. Für so viel Geld bekommt man heutzutage eine sonnige Einzimmerwohnung in Lohbrügge oder zwei fabrikneue 5er BMW mit Sonderausstattung. Günter Märtens besitzt weder noch. Er hat sich die ganze schöne Kohle in Form von Heroin durch Nase und Venen gejagt.

1977

Die Republik fahndet nach der RAF, Märtens, den alle nur „den langen Märtens“ nennen wegen seiner stattlichen Länge von 2,06 Metern, rennt seinem Traum hinterher: Er will ein erfolgreicher Musiker werden. Mit seinen langen Haaren, den markanten Wangenknochen und vollen Lippen sieht er zumindest schon mal aus wie ein Rockstar.

„Ich war ein überlanger, menschlicher Schrotthaufen.“– Günter Märtens

Tagsüber macht er eine Ausbildung im Sanitärfachhandel, das beruhigt die Eltern. Nachts spielt er Bass bei der Band Headstone. Das läuft ziemlich gut: ausverkaufte Konzerte, Lob in der Lokalpresse. Auf  der Bühne fühlt sich der lange Günter wirklich wie ein ganz Großer.

Anders als in der Reichsbundsiedlung in Blankenese, in der er mit seinen Eltern wohnt. Eine Welt, die ihm viel zu klein ist: Tür an Tür mit Kriegsversehrten, die in klobigen Rollstühlen über die Wege kurven, humpelnden Einbeinigen und einem spießigen Hausmeister – ein 18-Jähriger, der sich wie ein Fremdkörper unter Rentnern fühlt. Wo alles still steht, nur der Rasenmäher rotiert.

Musiker, Schauspieler und jetzt auch Buchautor: Günter Märtens erzählt in seinem Buch von seiner bewegten Zeit als Junkie. Foto: Andreas Hornoff.

Aber Märtens’ Träume sind so viel mehr St. Pauli als Blankenese. Die Band ist sein Ticket hinaus. Bis der Keyboarder plötzlich zu Gott findet und auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Die Band zerbricht daran und mit ihr Märtens.

„In dem Moment war da eine große Leere und Traurigkeit“, sagt er. Zu schwach und gleichzeitig zu risikofreudig sei er damals gewesen. Er schnupft zum ersten Mal Heroin. Frei nach dem Motto: „Jetzt renne ich mal gegen die Wand und gucke, ob es weh tut.“

7 Jahre

Es tat weh, und wie. Sieben Jahre lang. Ist Heroin für ihn anfangs noch „wie eine Geliebte“, bestimmt bald nur noch die Gier nach dem nächsten Schuss sein Leben. Er ist körperlich anwesend, aber nie ganz da. „Ich hatte immer im Hinterkopf: Habe ich einen Löffel dabei? Wo kann ich meinen nächsten Druck machen?“, sagt Märtens.

St.Pauli-Theater
Ulrich Tukur & Die Rhythmus Boys: Konzert für Hinz&Kunzt

Von Entzugserscheinungen  getrieben, bricht er Apotheken auf und pfeift sich rein, was einen Rausch auslöst – inklusive Pferde-Polamidon. Selbst wohlmeinende Chefs feuern ihn reihenweise. Seine Familie glaubt ihm kein Wort mehr, zu oft hat er sie schon angelogen. Irgendwann kann und will Günter Märtens nicht mehr. Ein Selbstmordversuch scheitert – auf Fotos von früher sieht man einen zerbrechlich wirkenden jungen Mann mit Unterarmbandagen schüchtern in die Kamera lächeln.

Als die Band zerbrach, begann seine Drogenkarriere. Sie gipfelte in einem Suizidversuch. Das Bild entstand kurz danach: Foto: privat.

Man kann das alles nachlesen in seinem autobiografischen Roman „Die Graupensuppe“. Märtens warnt darin nicht moralinsauer vor den bösen Drogen, sondern erzählt schonungslos und humorvoll zugleich, wie es ihm als Junkie ergangen ist. Etwa wenn er sich selbst als „überlangen menschlichen Schrotthaufen ohne Hoffnung auf rettendes Recycling“ bezeichnet.

75 Drogentote

Er sagt, ohne seine Freunde hätte er den Ausstieg nicht geschafft. „Die haben mir tierisch den Arsch aufgerissen, denen konnte ich null vormachen.“ Er ist dankbar, dass er die Kurve gekriegt hat, anders als viele seiner damaligen Weggefährten.

In dem Jahr, in dem er mit Heroin anfing, warnt der Spiegel auf  seinem Titel schon vom „Mord auf  Raten“. Doch auch vergangenes Jahr  starben in Hamburg 75 Menschen an den Folgen von Drogenkonsum, so viele wie seit 2002 nicht mehr.

1 Fahrt

Eine Fahrt zum David-Bowie-Konzert war es damals, die Günter Märtens wieder in die Spur bringen sollte. Nach Jahren des Konsums wurde ihm klar, dass er nur noch zwei Möglichkeiten hatte: weiter Heroin zu nehmen und sich selbst zu ruinieren oder aufzuhören.

Lesung

Günter Märtens liest bei der Langen Nacht der Literatur: Samstag, 2.9., 19.30 Uhr in der Buchhandlung Heymann Eimsbüttel, Osterstraße 134, Eintritt: 10 Euro, Restkarten an der Abendkasse.

Als er sich im Rückspiegel sieht, passiert etwas mit ihm. Wie aus dem Nichts taucht plötzlich ein Bild vor  ihm auf: der kleine Günter, lachend, unbeschwert. Es ist nur ein kurzer Moment. Als er aus dem Auto aussteigt, weiß Märtens, was er tun muss.

23 Monate

23 Monate dauert die Therapie in einer Wohngruppe in Ahrensburg, zu der er sich freiwillig verpflichtet. Dort gelten strikte Regeln: Drogen, auch Alkohol, sind komplett tabu, er darf sechs Monate niemanden aus seiner Familie sehen. „Ich habe das damals genossen, so reglementiert zu werden. Dieses Leben wie unter einer Käseglocke war eine Riesenerleichterung für mich“, sagt er.

„Ich habe zu mir selbst gefunden.“– Günter Märtens

Die Mitarbeiter der Therapiehilfe Hamburg dosieren ihn langsam herunter. „Körperlich war das gar nicht so heftig, psychisch war es schlimmer“, sagt Märtens. Nach 23 Monaten verlässt er die Einrichtung clean. „Ich bin nie wieder auch nur auf die Idee gekommen, wieder anzufangen.“

10. Mai

Der Saal im St. Pauli Theater ist voll.  Es ist der Abend, an dem Günter Märtens sein Buch vorstellt. Weil ihm seine neue Rolle als Autor noch nicht ganz geheuer ist, hat er seine eigene Band PlingPlang als Verstärkung mitgebracht.

Günter Märtens liest vor lauter Aufregung fast zwei ganze Kapitel, bevor ihm seine Verlegerin signalisiert aufzuhören. „Wir wollen ja das Buch auch noch verkaufen“, sagt Märtens und lacht. Momentan schreibt er schon an seinem
zweiten. Es macht da weiter, wo das erste endet: beim Start in den Entzug.

Reich wird er mit dem Verkauf der Bücher vermutlich nicht werden. Darum geht es ihm auch nicht. Er ist heil aus der Sache rausgekommen, das zählt. Er sagt: „Ich habe über diesen radikalen Weg, den ich niemandem empfehle, zu mir selbst gefunden.“

Das Buch

Roman „Die Graupensuppe“, Punktum Bücher!, 292 Seiten, 20 Euro.

Neulich hat er wieder mit seiner 92-jährigen Mutter telefoniert, die noch immer in Blankenese lebt. Günter Märtens lacht: „Die hat erst das Ende vom Buch gelesen, weil sie wissen wollte, ob es gut ausgeht.“

Autor:in
Simone Deckner
Simone Deckner
Simone Deckner ist freie Journalistin mit den Schwerpunkten Kultur, Gesellschaft und Soziales. Seit 2011 arbeitet sie bei Hinz&Kunzt: sowohl online als auch fürs Heft.

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