Im Mai wird das Grundgesetz 70 Jahre alt. Schon jetzt liegt es als Magazin an Bahnhofskiosken aus. Medienberater Oliver Wurm und Art Direktor Andreas Volleritsch wünschen sich, dass es viele (neue) Leser findet.
Irgendwie ist Oliver Wurm ein Missionar. Nicht im religiösen Sinn. Sondern in Bezug auf das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Wurm will nämlich, „dass alle diese vielleicht schönste Verfassung der Welt lesen“. Damit es keine Missverständnisse gibt, legt er noch mal nach: „Alle, alle, alle. Und zwar egal welchen Glaubens sie sind, egal welcher politischen Couleur.“
Er ist „so froh, dass wir diese Verfassung haben. Wir müssen sie verteidigen und dafür müssen wir auf die Straße gehen.“ Dass Oliver Wurm das Grundgesetz unter die Leute bringen will, macht deutlich, wie besorgt er ist. Seit 2015, seit die Willkommenskultur für die Flüchtlinge abebbte und ein neuer Rechtsruck im Land spürbar wurde, seit Pegida, wieder auflebendem Rassismus, Hetze und Hass ist er so politisch geworden „wie noch nie in meinem Leben“, sagt der 48-jährige Katholik, der noch nie einer Partei angehörte. „Weil Politik so nah an mich herankommt.“
Er verfolgt Talkshows anders, liest Zeitungen anders – „und ich gehe auch wieder auf die Straße – gegen Rechts“. Überall, wo er nur könne, versuche er gegenzusteuern: „Auf meinem Facebook-Kanal, auf meinen anderen Social-Media-Kanälen – und in privaten Diskussionen“, sagt er. „Ich habe gemerkt, dass man da was bewegen kann.“ Aber irgendetwas fehlte ihm noch.
Idee kam bei Fernsehen
Initialzündung für seine Idee, das Grundgesetz als Magazin herauszugeben, war eine Talkshow. Am 17. Oktober 2017 – Oliver Wurm weiß das Datum auswendig – saß der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar bei Markus Lanz in der Runde. Vermutlich ging es wieder mal um alles: um Geflüchtete, um Pressefreiheit, um den Rechtsruck in der Welt, um die Gefährdung der Demokratie.
Und irgendwann sagte Ranga Yogeshwar, der ja Pakistaner ist und einen luxemburgischen Pass hat, so etwas wie: Deutschland habe eine wundervolle Verfassung. Lest sie doch mal! Oliver Wurm wusste plötzlich, was zu tun ist. Am nächsten Tag habe er zu seinem Kollegen Andreas Volleritsch gesagt: „Wir müssen das Grundgesetz gut lesbar als Magazin herausgeben.“
Andreas, der schon mit ihm zusammen das Neue Testament als Magazin gemacht hat, war sofort dabei. Natürlich hatte Volleritsch in grauer Vorzeit das Grundgesetz schon mal gelesen. Aber jetzt, beim Wiederlesen, war er überrascht, „wie einfach, wie verständlich und wie intelligent das Asylrecht, die Religionsfreiheit oder die Gleichstellung von Mann und Frau geregelt wurden“, sagt der 46-Jährige.
„Alle sollen die schönste Verfassung der Welt lesen.“– Oliver Wurm
Auch für den Art-Direktor ist das Grundgesetz kein normales Produkt. „Für mich schwingt im Hinterkopf mit: Was hinterlasse ich meinen Kindern? Mit welchen Werten erziehe ich sie? Wie sollten wir aufeinander zugehen und uns verstehen? Und wenn man Streit hat, wie verträgt man sich wieder? Das alles steht im Ansatz im Grundgesetz.“
Natürlich sind nicht alle Kapitel topspannend, räumt Oliver Wurm ein. Aber man müsse ja auch nicht alles lesen, was da über den Bund, die Länder und das Postwesen geschrieben wurde. Wichtig sei doch nur, mal anzuerkennen, wie gut und vorausschauend alles geregelt sei.
Gänsehautmomente beim Lesen
„Richtig berührt“ habe ihn wiederum, was die Väter und Mütter („Immerhin waren vier Frauen aus drei Parteien dabei“) 1948 unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges geschrieben haben, „weil es vielleicht nur ein paar Jahre dauern würde, bis es wieder Krieg geben würde in Deutschland“.
Mehrere Artikel sind dem Verteidigungsfall gewidmet: Dass ein Angriff droht, muss demnach der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates feststellen – mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit der abgegebenen Stimmen und auf Antrag der Bundesregierung. Artikel 115a haben Oliver Wurm und Andreas Volleritsch ganz groß gedruckt, „weil in 70 Jahren kein Krieg mehr von uns ausging. Wenn einem das klar wird, ist das ein richtiger Gänsehautmoment.“
Gänsehautmomente erlebten die beiden oft. Zum Beispiel, „dass im Grundgesetz drinsteht: Die Todesstrafe ist abgeschafft. Wenn man sich vorstellt, dass das bis heute weltweit nicht selbstverständlich ist. Und dass die Hessen die Todesstrafe erst in diesem Jahr in ihrer Landesverfassung abgewählt haben“, sagt Wurm.
Das Grundgesetz als Magazin
Und dann diese Schönheit der Sprache wie etwa in Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar!“ Darüber kann sich der Medienberater nicht genug freuen. „Sätze sind das, die kennt heute jeder und die kannst du dir aufs T-Shirt drucken. Aber lass dir das mal einfallen.“
Vom Layout her ist das Grundgesetz eine echte Überraschung. Zumindest für die, die nicht schon das Neue Testament als Magazin kennen. Mit Passagen in Riesengroß, die man vielleicht noch nie bewusst gelesen hat.
Das Titelblatt ist wieder grafisch gestaltet. In der Mitte ein rotumrandeter Kasten: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, steht darin. „In der Mitte, weil das Grundgesetz in die Mitte der Gesellschaft gehört“, sagt Oliver Wurm. „Geschützt wird es durch die rote Umrandung. Die zwei Linien, die vom Kasten wegführen, zeigen, dass die Verfassung am seidenen Faden hängt.“
Fotos aus dem All
Lange haben die beiden Magazinmacher überlegt, wie sie das Grundgesetz bebildern wollen. Wieder hat Oliver Wurm die Lösung beim Fernsehschauen gefunden: Beim Bürgerfest des Bundespräsidenten in Berlin wurde der deutsche Astronaut Alexander Gerst aus dem All zugeschaltet. „Da habe ich gedacht, wie toll wäre es, wenn der für uns fotografieren würde.“
Sehr unwahrscheinlich, dass Alexander Gerst davon weiß, aber die Europäische Weltraumorganisation (ESA) hat sofort ihr Okay gegeben und den Magazinmachern erlaubt, die Bilder zu verwenden. „Wir sind dann Astro-Alex vier Monate lang auf allen Kanälen gefolgt“, sagt Oliver Wurm.
Zum Einstieg ins Grundgesetz gibt es eine Satellitenaufnahme von Europa mit all seinen Außengrenzen bei Tag, dann eine von Bonn, der alten Hauptstadt, von Berlin, der neuen, von Hamburg und von der Künzelsau, wo Astro-Alex aufgewachsen ist.
Was den Verkauf anbelangt, hat Oliver Wurm gigantische Pläne: „Am liebsten will ich nicht 100.000 verkaufen, sondern 500.000 – und noch ganz viele verschenken.“ Zu kaufen gibt es das Magazin deshalb an 800 Verkaufsstellen an Bahnhöfen und Flughäfen. „Bei kleinen Kiosken landet so etwas viel zu schnell in der Bananenkiste“, sagt Wurm.
„Kein Magazin darf weggeschmissen werden.“– Oliver Wurm
„Eine Frühremission würde ich beim Grundgesetz nicht ertragen. Kein Magazin darf weggeschmissen werden.“ Das kostet natürlich Geld: Damit das Magazin überhaupt in Druck gehen konnte, haben Wurm und Volleritsch 70 Sponsoren gesucht, aus allen Sparten der Gesellschaft. DAX-Unternehmen, Mittelständler, Start-ups – und auch Hinz&Kunzt erscheint mit seinem Logo. Natürlich nicht als Geldgeber. „Aber ihr seid eben auch ein Teil der Gesellschaft“, sagt Oliver Wurm, der seit Jahren im Hinz&Kunzt-Beirat engagiert ist.
Kurz bevor das Grundgesetz in Druck ging, gab es dann noch eine Überraschung, mehr noch: eine Punktlandung. Alexander Gerst machte nämlich noch ein wichtiges Foto. Eine Nachtaufnahme von Europa, und dazu schrieb er: „From space it’s pretty clear that Europe belongs together.“ („Vom All aus ist es ganz klar, dass Europa zusammengehört.“)
„Da wussten wir: Wow, das ist jetzt das Schlussbild.“ Wieder so ein Gänsehautmoment. Und für den Grundgesetz-Missionar Oliver Wurm steht jetzt schon fest, dass er zu Astro-Alex Kontakt aufnehmen wird, sobald der nach seiner Landung am 10. Dezember wieder ansprechbar ist. Mal sehen, wie der Astronaut das alles von der Erde aus betrachtet.