In ihrer Graphic Novel „Scheiblettenkind“ zeichnet Eva Müller eine Kindheit und Jugend als Arbeiterkind nach – und stellt wichtige Fragen, etwa: Warum ist es in Deutschland immer noch schwierig, Klassengrenzen zu überwinden?
Immer wenn Eva Müller nicht weiterwusste, zeichnete sie Marx. Genau, den Marx: „Bei Schreibblockaden war er meine Ausflucht. Er ordnet die Dinge ein“, sagt die Illustratorin und Autorin. An jedem Kapitelende kommt er zu Wort. Ihr Marx besteht gefühlt fast nur aus Haaren, dicht an dicht kringeln sie sich an Kopf und Vollbart. In ihrer Graphic Novel „Scheiblettenkind“ hat Müller den Klassenkampf-Vorkämpfer in die Gegenwart gebeamt: Marx trägt Hipster-Klamotten und sitzt im Café vor dem Laptop zwischen übermüdeten Digital Natives. Sanft blickt er unter buschigen Augenbrauen hervor, darunter liest man bekannte Sätze von ihm wie: „Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein.“
Die in Hamburg lebende Zeichnerin und Autorin Eva Müller hat mit „Scheiblettenkind“ die „erste autofiktionale Graphic Novel über Klassismus“ veröffentlicht, trommelt ihr Verlag. Das wirft Fragen auf: Autofiktional? Klassismus? „Das Buch ist auf jeden Fall angelehnt an meine Biografie“, sagt die 43-Jährige, um den Begriff autofiktional zu erklären. „Aber mir ging es mehr darum, gesellschaftliche Zusammenhänge aufzuzeigen“, sprich: Ihre Biografie mischt sich mit Erfundenem. „Ich bin Geschichtenerzählerin, das war mir wichtiger, als starr bei meinem Leben zu bleiben“, so Müller. Es sei ihr anfangs auch gar nicht klar gewesen, dass sie ein Buch über Klassismus macht. Der Begriff, der die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft meint, werde ja derzeit auch regelrecht gehypt, sagt sie und lächelt. Sie habe eher ein Buch über die Arbeiterklasse oder untere Mittelschicht in Deutschland und ihre äußeren und inneren Kämpfe machen wollen.
Studien legen nahe, dass die Klassenzugehörigkeit in Deutschland noch immer über den Bildungsweg eines Menschen entscheidet.
Arbeiterkinder studieren zum Beispiel nur selten: Von 100 Kindern aus Arbeiterfamilien beginnen nur 27 ein Hochschulstudium, wohingegen von 100 Kindern aus Akademikerfamilien 79 zur Uni gehen, wie die Initiative „Arbeiterkind“ berichtet. Dennoch: Die Noten von Arbeiterkindern sind nicht schlechter als die ihrer Kommiliton:innen. „Gerade in den unteren Schichten arbeiten die Leute hart und schaffen den Aufstieg trotzdem nicht. Das liegt an gesellschaftlichen Umständen, nicht am Individuum, das zu faul, zu dumm, zu langsam ist“, regt sich Eva Müller auf. „Dieses ‚Jeder ist seines Glückes Schmied‘ … das ist so ein Narrativ, das immer weitergesponnen wird. Ich wäre froh, das würde mal durchbrochen werden.“
Lange Zeit war die Autorin trotzdem unsicher, ob ihre eigene Geschichte zum Buchthema tauge: „Ich dachte: Ist das nicht zu lahm? Dann habe ich aber gemerkt: Nee, genau das Gegenteil stimmt. Weil es das in Deutschland noch kaum gibt.“ Erst seit einigen Jahren gewinnt das Thema hierzulande an Bedeutung. Anders als in Frankreich. Dort hat das Schreiben über Klassenzugehörigkeit Tradition: Müller nennt Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“) und Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux („Die leeren Schränke“) als Vorbild, beide beschäftigen sich intensiv mit ihrer eigenen sozialen Herkunft.
So wie Müller in ihrer Graphic Novel: Was macht das mit einem Menschen, wenn er in einem Zuhause aufwächst, in dem es keine Bücher gibt? Wo Geld chronisch knapp ist und niemand eine Uni-Karriere für wichtig erachtet? Wo es statt Büffelmozarella mit Balsamico-Reduktion zum Abendbrot höchstens Toast mit in Plastik eingeschweißtem Scheiblettenkäse gibt und zum Nachtisch jede Menge Flüche: Wie soll das bloß werden, wenn Papa oder Mama ihren Job verlieren? Und warum kommen diese Ostdeutschen auf einmal in unser Dorf?
Eva Müller sagt über ihre Jugend: „Ich bin durch Zufall an Personen geraten, die mir Literatur zugänglich gemacht haben.“ Einer katholischen Bibliothekarin in der Dorf-Bücherei ihrer süddeutschen Heimat kommt dabei eine besondere Rolle zu. Über den Einstieg „Pferde- und Abenteuerbücher“ habe sie schließlich den Zugang zu klassischer Literatur bekommen. „Ich habe mich dadurch einfach ans Lesen gewöhnt und Spaß daran gefunden. Wenn das nicht passiert wäre, hätte ich wahrscheinlich einen ganz anderen Beruf“, sagt sie. Gezeichnet hat sie hingegen „schon immer“. Doch auf ihrer Realschule gab es nach der 7. Klasse keinen Kunstunterricht mehr. Zeichnen als Beruf? Eine damals abwegige Vorstellung: „Nach dem Schulabschluss hat das aufgehört, weil dann das Leben losging mit Arbeiten.“ Müller studiert zunächst etwas
„Vernünftiges“: Soziale Arbeit.
Erst über Umwege landete sie wieder beim Zeichnen, absolviert an der HAW ein Studium zur Illustratorin. Ihre erste Graphic Novel, in der es ums Sterben geht, „wollte aber niemand haben“, erinnert sich Müller – bis ein Indie-Comicverlag sie verlegt. Das Buch wird ein Überraschungserfolg und ermöglicht es der Autorin, vom Zeichnen und Schreiben zu leben. Sie klingt aber noch immer ungläubig, wenn sie von ihren Einladungen für mehrmonatige Gastaufenthalte in Finnland, Japan oder Frankreich erzählt, bei denen ihre Bücher entstehen. „In Frankreich habe ich in einem super fancy Anwesen mit Blick aufs Meer gewohnt. Ein Amerikaner hatte das geerbt, der hat das Haus der Künstler-Community vermacht. So einen Ort habe ich vorher noch nie betreten“, sagt sie.
Die Scham darüber, eine „Asitussi“ zu sein, nicht dazuzugehören, weil man aus einem sogenannten bildungsfernen Haushalt kommt, wird in Eva Müllers Buch durch eine Schlange symbolisiert. Die zischt fiese Sachen wie: „Kauf dir mal ein Buch, Loser!“ oder „Bauerntrampel!“ Die Schlange ist der zum Tier gewordene innere Kritiker, der die Protagonistin auf Schritt und Tritt begleitet. „Scham ist ein schleichendes Gefühl, das sich unbewusst breitmacht“, so Müller, „oft wird es dir erst klar, wenn es dir die Luft zuschnürt. Dass die Schlange ein biblisches Motiv ist, ist mir erst relativ spät aufgefallen. Manchmal sieht man ja den Elefanten im Raum nicht.“
Obwohl sie mittlerweile von ihrem Beruf leben kann, ist die Unsicherheit nicht ganz weg: „Ich merke an einigen Punkten immer noch, dass ich mehr Angst habe, auf die Schnauze zu fallen, als andere. Ich lebe sehr sparsam und lege sehr viel zurück“, sagt Eva Müller. Was sie gut findet: Dass sie mittlerweile weiß, was ihre Arbeit wert ist und das auch einfordert. „Ich verlange heute andere Honorare. Ich hätte die vorher auch schon verdient gehabt, aber ich habe mir nicht zugetraut, die zu verlangen“, sagt sie.
Bald wird sie für vier Monate in die USA fahren und dort an ihrem neuen Buch arbeiten. Es wird von einer obdachlosen Frau handeln, die vom Hamburger Serienmörder Fritz Honka ermordet wurde. „Während er sehr bekannt ist, weiß man über seine Opfer gar nichts“, sagt Eva Müller. Was sie besonders umtreibt, ist die Frage, wieso keine der getöteten Frauen vermisst wurde. „Wie passiert so was? Zwei seiner Opfer waren als sogenannte Asoziale im KZ Ravensbrück“, sagt Eva Müller. „Das ist auch eine Klassenfrage.“