Hans Berling, Leiter der Jenfelder Kaffeekanne, sprach mit Hinz &Kunzt-Autor Frank Keil über unruhige Kinder und erschöpfte Eltern in Jenfeld
(aus Hinz&Kunzt 179/Januar 2008)
Hinz&Kunzt: Wie geht es Kindern in Jenfeld?
Hans Berling: Vordergründig geht es ihnen gut. Sie haben hier viele Spielkameraden und viele Einrichtungen, in denen sie ihre Freizeit verbringen können. Auch haben sie ausreichend Platz zum Spielen, es gibt viele Freiflächen. Aber der Schein trügt: Die Lebenssituation und Zukunftschancen vieler Kinder hier in Jenfeld sind sehr prekär. Wir haben hier eine Reihe von Eltern, die können ihren Kindern wenig mitgeben, und sie haben nicht die Geduld, sich richtig mit ihnen zu beschäftigen – sei es, ein Buch zusammen zu lesen, ein Spiel zu spielen oder ihnen bei den Hausaufgaben zu helfen.
Hinz&Kunzt:Stimmt es, dass sich die Situation für Kinder trotz aller Bemühungen immer weiter verschlechtert?
Berling: Alles steht und fällt mit der Massenarbeitslosigkeit. Vor ein paar Jahren noch waren viele Eltern neben der Sozialhilfe zumindest noch saisonmäßig beschäftigt; hatten Aushilfsjobs im Garten- und Landschaftsbau oder ganz klassisch im Hafen. Diese Arbeitsplätze gibt es nicht mehr. Damit sind viele Familien dauerhaft und durchgängig arbeitslos.
Hinz&Kunzt:Was hat das mit den Kindern zu tun?
Berling: Viele Eltern können ihren Kindern nicht mehr vermitteln, was es heißt selber dafür zu sorgen, dass der Kühlschrank voll ist. Die Kinder sehen, die Familie wird alimentiert und es reicht irgendwie. Dass man sich auch mal zusammenreißen muss, um zur Arbeit zu gehen, denn nicht jeden Tag macht der Job Spaß, das lernen sie nicht mehr. Spätestens, wenn aus dem Kind ein Jugendlicher geworden ist, fragt er sich morgens um sieben, wenn es dann auch noch regnet: „Was soll das eigentlich alles? Muss ich jetzt wirklich raus aus dem Bett?“
Hinz&Kunzt:Sprechen die Kinder über ihre Situation?
Berling: Wer sich nachmittags hier umschaut, trifft erst mal normale, laute und freche Kinder. Würde man sie fragen: „Seid ihr arm?“, würden sie antworten: „Nein. Aber in Afrika, da gibt es arme Kinder.“ Fragen Sie die Kinder jedoch nach ihren Wünschen, dann kommt: „Ich möchte, dass meine Eltern Arbeit haben. Ich möchte, dass mein Vater wieder da ist. Ich möchte, dass es meiner Mutter wieder besser geht.“ Das sind für Kinder eher untypische Wünsche. Aber zu Hause erleben sie eben erschöpfte Eltern, die Mahnbriefe nicht öffnen, die verzweifelt mit Geld und Schulden jonglieren und die trotz aller Bemühungen keine ausgeglichenen und verlässlichen Personen sind. Diese psychische Unruhe macht die Kinder völlig kirre. Wir sehen das daran, wie unruhig und unkonzentriert viele Kinder sind.
Hinz&Kunzt:Haben Sie ein Beispiel?
Berling: Vor zehn Jahren konnte eine Erzieherin ohne weiteres mit zehn Kindern zu einem Ausflug in die Stadt fahren. Heute brauchen wir mindestens zwei, um die Gruppe im Griff zu haben.
Hinz&Kunzt:Sprechen Sie mit den Kindern über ihre Situation?
Berling: Wir würden niemals den Kindern sagen: „Ihr seid arm und deswegen kriegt ihr hier ein Mittagessen für 50 Cent.“ Es kommt auch kein Kind auf die Idee zu denken: „Das ist fast umsonst, weil ich arm bin.“ Sondern: Es ist fast umsonst – toll, schön, freuen wir uns drüber. Wir möchten den Kindern keinesfalls den Stempel „arm“ aufdrücken.
Hinz&Kunzt:Oft höre ich: Arbeitslose können sich doch den ganzen Tag um ihre Kinder kümmern!
Berling: Es ist für berufstätige Menschen schwer vorstellbar, dass Zeit einfach so verrinnt. Arbeitslose leben in überhaupt keiner Struktur: Es ist völlig egal, ob ich das Wohnzimmer heute staubsauge, ich kann es ja auch morgen machen. Oder übermorgen. Oder irgendwann. Man verliert sich und kann sich eines Tages überhaupt nicht mehr aufraffen. Bei einer Reihe von Eltern regiert bald ein blanker Fatalismus: „Ich kriege es ja nicht mal hin, dass ich am Monatsende noch genügend Geld auf dem Konto habe, um Lebensmittel zu kaufen. Wie soll ich da meinen Kindern ein Vorbild sein?“
Hinz&Kunzt:Nun gibt es in Jenfeld seit Jahren viele Einrichtungen, die sich um die Kinder kümmern. Wieso verändert sich so wenig?
Berling: Weil unser Einfluss minimal ist im Vergleich zu dem des Elternhauses. Bei uns sind sie vielleicht vier Stunden am Tag, im Elternhaus verbringen sie 20. Deshalb sind wir nicht überflüssig: Wir können Kindern zeigen, wie es anders gehen könnte. Wir Kinder- und Jugendeinrichtungen merken zunehmend, dass wir in gleichem Maße Elternarbeit machen müssten. Wir haben hier im Hause eine Gruppe mit acht Kindern und deren Familien, die intensiv betreut werden. Plus Großeltern. Plus die Geschwister. Das ist ein kleines Ding – es sollte flächendeckend eingeführt werden.
Hinz&Kunzt:Gibt es Kinder, die es trotzdem schaffen?
Berling: Durchaus – wenn das Elternhaus stabil geblieben ist. Das Problem ist aber, das sich immer mehr Eltern aufgeben – und die Stabilen weniger werden. Wir kommen langsam in die dritte Generation der Langzeitarbeitslosen, und diese Kinder werden irgendwann wieder Familien gründen und mit dem was sie erlebt haben, ihre Kinder erziehen. Ich befürchte, dass wir einen Sockel an Menschen kriegen, denen es an allem mangelt; die große Probleme haben – und die der Gesellschaft große Probleme bereiten werden.
Die Kaffeekanne Jenfeld gegründet 1994 vom Verein Aktive Nachbarschaft Jenfeld, ist ein Nachbarschaftstreff für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Das Angebot umfasst unter anderem ein Kinder- und Jugendcafé, ein kostenloses Frühstück sowie einen Pädagogischen Mittagstisch für Schulkinder und eine Gruppe für Grundschulkinder und deren Eltern mit besonderem Unterstützungsbedarf.