Milieunahe Erziehung ist nach dem Tod von Chantal in Misskredit geraten. Aber milieunah kann auch klappen: zum Wohle des Kindes – und der Eltern. Bei SME bekommen Kinder Nestwärme in einer Wohngruppe und dürfen ihre Eltern sehen. Wenn diese kooperieren.
(aus Hinz&Kunzt 228/März 2012)
Eigentlich sollte Johannes nur drei Wochen im Kinderwohnhaus bleiben, das dachte der 13-Jährige zumindest. Nur solange sein Vater seinen Entzug macht. Der war nämlich alkoholkrank und nahm Drogen. „Meine Mutter habe ich gar nicht gekannt“, sagt er. Der Entzug zog sich in die Länge, und Johannes fühlte sich immer wohler in der Wohngruppe. So wohl, dass er blieb. Sechs Jahre ist das her. Dass es ihm so gut gefällt, hat viel mit dem Heim zu tun, in das er kam. „Wobei Heim für mich das falsche Wort ist“, sagt der heute 19-Jährige. „Für mich ist es eher ein Zuhause.“
SME heißt das Projekt und es steht für stadtteilbezogene milieunahe Erziehung. In zwei Gruppen wohnen jeweils acht Kinder, ihre Betreuer leben tageweise bei ihnen, sind aber auch außerhalb ihrer Arbeitszeit nicht ganz weg: Viele wohnen mit ihren Familien im Haus. Der Wohlfühlfaktor ist nicht nur bei den Kids hoch, auch bei den Sozialpädagogen. Maria Nemitz (57) beispielsweise ist nicht die Einzige, die seit mehr als 20 Jahren dabei ist.
Das Prinzip: Die Kinder sollen Nestwärme, Halt und Geborgenheit spüren und Unterstützung bekommen – auch in schulischen Belangen. Die Gruppen fahren sogar zusammen in den Urlaub, und es gibt jede Menge Ausflüge – auch mit den Eltern. „Wir wollen keine Konkurrenz zu den Eltern sein“, sagt Maria Nemitz. Im Gegenteil: Wenn alles gut läuft, werden die Eltern bei SME quasi auch „adoptiert“. Allerdings unter der Maßgabe: Das Kindeswohl geht vor. Die Eltern finden bei SME jede Hilfe, aber Kontakt zu den Kindern gibt es nur, wenn er für sie gut ist.
„Für uns sind die Eltern keine Feinde, meistens sind sie überfordert und selbst in Not“, so die Erfahrung von Maria Nemitz. „Dass sie ihren Kindern nicht alles geben können, tut ihnen oft selbst am meisten leid.“ Vielleicht ist dieses Mitgefühl mit den Eltern auch der Grund, warum der Vater von Johannes seinen Sohn loslassen konnte. „Als mein Vater merkte, wie wohl ich mich hier fühle, hat er mir die Entscheidung überlassen“, sagt Johannes, sichtlich stolz auf seinen Pa.
Geeignete Pflegefamilien zu finden ist schwer
Millieunah muss also nicht heißen, dass ein Kind – wie im Fall von Chantal – aus einer Familie, die schon viele Probleme hat, in eine andere Familie gegeben wird, die ebenfalls viele Probleme hat. Selbst gut funktionierende Familien sind oft überfordert, wenn die Pflegekinder traumatisiert sind. Deswegen ist es auch so schwer, geeignete Pflegefamilien zu finden. Der alte schwarz-grüne Senat hat es versucht, nicht zuletzt aus finanziellen Erwägungen: Ein Heimplatz kostet den Staat bis zu 4000 Euro im Monat, ein Platz in einer Pflegefamilie nur bis zu 1000 Euro.
SME versucht, viele Brücken zu schlagen, damit die Eltern Vertrauen fassen. Eines der besten Beispiele: Einen Tag vor Weihnachten war ein Kind seiner Mutter weggenommen und zu SME gebracht worden. „Die Mutter war total verzweifelt“, sagt Maria Nemitz. „Da habe ich sie gefragt, ob sie nicht Weihnachten mit uns zusammen feiern will.“ Die Frau war völlig verdattert, kam – und erzählte ihre eigenen Sorgen und Probleme. Und nahm schließlich Hilfe an. Trotzdem: Bis sich wirklich im Leben der Eltern etwas verändert, dauert es meist Jahre. „Die meisten sind ja selbst Opfer und haben eine lange Leidensgeschichte hinter sich“, sagt die Pädagogin. „Sich dem zu stellen tut weh.“
Wie bei Bettina: Ihre drei Kinder leben bei SME. Sie haben selbst Hilfe geholt: Die Älteste wurde nämlich vom Stiefvater missbraucht und die Kleinen mussten zusehen. Bettina will damals von alldem nichts gemerkt haben. Mehrfach ist die Mittlere zur Polizei gerannt, hat aber nicht Klartext geredet. Die Polizei brachte das Mädchen immer wieder zurück in diese superordentliche Wohnung und stellte nichts Verdächtiges fest. Aber als die Kinder älter wurden, waren sie so verhaltensauffällig, dass das Jugendamt sie an SME überwies.
Selbst als die Kinder weg waren, hat es noch Jahre gedauert, „bis ich wach geworden bin“, sagt Bettina heute, zwölf Jahre später. Alle möglichen Gefühle überrollten sie: Schmerz über den Verlust der Kinder und Scham. Den Kindern erzählte sie, dass sie ihren Lebensgefährten rausgeschmissen hätte, aber irgendwie hatte sie nicht die Kraft, sich wirklich von ihm zu trennen. Ihre eigene Mutter machte Druck, dass sie die Kinder zurückholen müsse. Und wütend war sie. Zwar ging sie regelmäßig zu den Elternabenden von SME –, „aber beim Rausgehen dachte ich: Ihr könnt mich mal“.
SME blieb jedoch hartnäckig und klar: Der Kontakt zu den Kindern wird nur intensiviert, wenn du was änderst. Bettina ließ sich schließlich ein, stellte Strafanzeige gegen ihren Lebensgefährten, machte eine zweijährige Therapie und führte Dutzende von Gesprächen mit den Kollegen von SME. Heute ist sie fassungslos darüber, dass sie so lange weggeguckt und ihre Kinder nicht geschützt hat. Vermutlich, weil auch ihre Mutter sie nie beschützt hat. „Mein Stiefvater konnte die Finger auch nicht von mir lassen.“
Selbst wenn die Eltern – wie Bettina – kooperieren, ist der Kontakt wohldosiert: Manche Kinder dürfen am Wochenende ein paar Stunden nach Hause, manche dürfen übernachten, manche sehen ihre Eltern eine Zeitlang gar nicht. Und sonntagabends, wenn alle wieder zusammen sind und in der gemütlichen Wohnküche beim Abendbrot sitzen, ist immer Krisen- und Redezeit eingeplant.
Eines der wichtigsten Dinge, die die Kinder lernen, ist zu reden: ohne sich als Verräter zu fühlen
Denn eines der wichtigsten Dinge, die die Kinder lernen, ist zu reden: ganz offen und ehrlich darüber, wie es ihnen geht. Etwas, was die Kinder nicht kennen: reden, ohne dass sie sich als Verräter fühlen. „Schon als ich ganz klein war, war ständig jemand vom Jugendamt da. Ich hab nur gedacht: Was wollt ihr denn!“ Dabei wusste Johannes schon, dass irgendwas nicht stimmte. „Mein Papa war immer liebevoll, er hat uns auch nie geschlagen“, sagt er, auch wenn er oft „gebrüllt hat wie eine Eins“. Er fand aber schon, dass sein Papa doch ziemlich viel mit sich zu tun hatte und dass sie ständig umgezogen seien, gefühlt „tausend Mal“. Und dass die anderen nicht nur ihn wegen seiner Billigklamotten schräg anguckten, sondern auch seinen Vater. „Man sah ihm halt sein Leben an.“
Oft ist es so, dass man als Kind gar nicht erkennt, dass etwas im Argen liegt. „Ich fand alles ganz normal. Ich kannte es ja nicht anders“, sagt der 20-jährige Reinhard. Dabei war er als Kind komplett durch den Wind: Seine Mutter hatte ihn mit ein paar Monaten an eine Freundin „verschenkt“, weil sie sich die Erziehung nicht zutraute. Die Pflegemutter war drogen- und alkoholabhängig. In der Schule fiel der Junge auf, weil er so geistesabwesend und verhuscht war – und die Pflegemutter nicht zugänglich für Hilfe. Als Neunjähriger kam er zu SME, war lieb und angepasst, hatte aber überhaupt keine Selbstwahrnehmung. Als er gefragt wurde, wer ihm im Leben wichtig sei, wusste er niemanden.
Weil die Pflegemutter auch in der Folge nicht kooperieren konnte, hatte Reinhard nur sporadisch Kontakt zu ihr. Seine leibliche Mutter lebt in einer anderen Stadt. Zu ihr will er bis heute keinen Kontakt. Zehn Jahre lebt er jetzt bei SME, zieht gerade in eine eigene Wohnung. Und ausgerechnet er, der früher alles vergaß und deswegen in der Schule nicht mitkam, geht jetzt aufs Gymnasium und will Sozialpädagogik studieren. Und er kann inzwischen sagen, wen er mag und wen er richtig gern hat. Auch über sich und seine Pflegemutter, die inzwischen gestorben ist, kann er jetzt sprechen. „Sie liebte mich und ich liebte sie“, sagt er. „Aber sie konnte mir einfach nicht das geben, was ich als Kind brauchte.“
Und Bettina sagt heute trotz all der Schmerzen, die sie selbst noch mal durchleiden musste: „Dass die Kinder zu SME kamen und ich auch – das war das Beste, was uns passieren konnte.“ Zu allen drei Kindern hat sie intensiven Kontakt. Nur der Jüngste, der jetzt 21 ist, lebt noch bei SME, in einer kleinen Wohnung, die er sich mit Johannes teilt. SME ist nämlich auch noch da, wenn jemand volljährig wird und damit eigentlich aus der Jugendhilfe herausfällt. „Schon normale Jugendliche sind in der Regel mit 18 nicht komplett selbstständig und brauchen noch Unterstützung“, sagt Maria Nemitz. „Es ist doch klar, dass Kinder mit diesem Hintergrund eine verlängerte Startbahn ins Leben brauchen.“
Text: Birgit Müller
Foto: Mauricio Bustamante
Mehr Infos zu SME unter www.sme-jugendhilfezentrum.de.