In kalten Nächten schlafen mehr als 200 Menschen in Winternotquartieren. Wenn die im April schließen, wissen die meisten Obdachlosen nicht, wo sie hin sollen
(aus Hinz&Kunzt 182/April 2008)
In diesen Tagen schließen die Winternotquartiere für Obdachlose. Mehr als 200 Menschen verlieren dann Bett und Dach über dem Kopf. Was aus ihnen wird, ist in den meisten Fällen nicht bekannt. Ein Besuch in der Notunterkunft Sportallee.
Kühler Wind weht, eine Wolke zieht über die Innenstadt, aber noch scheint die Sonne. Die Uhr an der Spitaler Straße zeigt halb sieben, Dutzende Menschen mit Einkaufstüten gehen über die Ampel, die zum Hauptbahnhof führt. Da löst sich ein Mann aus dem Pulk und biegt vor der Wandelhalle nach rechts, läuft mit federnden Schritten zu einem Kleinbus, der vor der Bahnhofsmission steht, und steigt ein. „Hallo, ich bin Nasser“, sagt er zu den beiden Männern, die hinten sitzen. Sie nicken. Der Fahrer hinterm Lenkrad dreht den Zündschlüssel um: „Jetzt kommt keiner mehr.“
Der Bus rollt durch den Feierabendverkehr, Richtung Flughafen. Nasser greift an seine Mütze mit dem roten „NY“-Markenzeichen und schaut aus dem Fenster. Mit seinem weißen Kapuzenpulli und der schwarzen Jacke sieht der 35-Jährige aus wie die Menschen auf der Straße, aber im Gegensatz zu ihnen lebt er dort. „Die Jacke habe ich geschenkt bekommen, den Kapuzenpulli auch“, sagt er. Der Bus der Caritas stoppt vor einem Flachbau, ein Flugzeug schwebt dicht über die Häuser, das Ziel ist erreicht: Sportallee 70. „Winternotprogramm“ steht auf einem Schild am Eingang.
Im Erdgeschoss, Zimmer 10, blättert Eleonore Fleth eine Liste durch und macht einen Haken bei Nassers Namen. Er war am Vortag schon da. „Unsere Übernachter achten immer mehr auf ihr Erscheinungsbild“, sagt die Leiterin des Hauses. „Auf der Straße unterscheiden sie sich kaum von anderen.“ Mit ihren weichen Rundungen und ihrem klaren Blick sieht sie aus wie eine vollendete Herbergsmutter. Seit 29 Jahren arbeitet die 58-Jährige für den Träger des Hauses, das städtische Unternehmen fördern & wohnen. Ab Dezember könnte sie sich an eine andere Stelle versetzen lassen, an der es ruhig ist und abends um acht nicht noch jemand mit nasser Kleidung zu ihr kommt und fragt, ob er trockene bekommen kann. „Aber mein Herz hängt hier, an den Menschen“, sagt Fleth. Übernachter nennt die Sozialmanagerin sie, oder Gäste und Kunden, niemals Obdachlose: „Das klingt nicht so abwertend.“ 100 Betten, vier in jedem Zimmer, stehen ihnen zur Verfügung. 85 Gäste werden es in dieser Nacht sein.
Im Essensraum duftet es. Am Nachmittag haben Helfer der Hamburger Tafel kleine Dosen Gemüsesuppe geliefert, doch die wird erst in den kommenden Tagen gegessen werden. Heute gibt es Bratwurst mit Karotten und Erbsen aus der Dose, dazu Kartoffelsalat. Zusätzliche Lebensmittel kaufen die fünf Mitarbeiter des Hauses von den Geldspenden, die reinkommen. 4200 Euro waren es in diesem Jahr. Nasser stellt sich in die Schlange vor der Küche und lässt sich von einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin eine Bratwurst auf den Teller geben. Im Speiseraum hängt ein Schild mit durchgestrichener Flasche: „Kein Alkohol“.
Beim Essen erzählt Nasser, wie er nach der Hauptschule in Farmsen-Berne gerne S-Bahn-Surfen ging, Graffiti sprühte und seine erste große Liebe fand: „Das war die schönste Zeit.“ Eine Ausbildung fand darin keinen Platz. Er lebte in einer Wohngemeinschaft, bis er Ärger mit seinem Mitbewohner hatte. Jetzt lebt er auf der Straße. Nasser hat 20.000 Euro Schulden und einen Traum: „In fünf Jahren will ich in einer Wohnung leben mit einer Frau, die ich liebe. Und ich will Menschen helfen, die auf der Straße leben.“ Menschen wie er, die im Winter zwischen 16 und 9 Uhr eine Nacht in einem Haus ausruhen können. Noch braucht Nasser selbst Hilfe, das weiß er. „Ich bin kein Kämpfer. Ich bin … Ich weiß noch nicht, wer ich bin. Ich werde es herausfinden. Gott wird mir helfen.“
Auf dem hellblauen Linoleumboden legen Kaffeetropfen eine Spur vom Essensraum an der Küche vorbei bis zu einem der Schlafzimmer. Manchen Gästen zittert wegen Krankheit oder Drogenentzug die Hand. „Zu uns kommen hilflose Menschen“, sagt Hausleiterin Fleth. Manche sind inkontinent, haben offene Wunden. Andere nehmen harte Drogen oder sind auf Entzug. Alkohol spielt manchmal eine Rolle, aber nicht eine so große wie früher. „Dagegen gibt es immer öfter Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten“, sagt die Sozialmanagerin. Manche nennen es psychische Störung, aber Eleonore Fleth nicht, auch das „finde ich abwertend“. Es kommt vor, dass eine Frau mit jemandem redet, den andere nicht sehen können. Andere haben ihre Sprache verloren. „Die Zahl dieser Menschen hat enorm zugenommen.“
Ramon (Name geändert, Red.) ist unauffällig. In dem grauen Pulli und der Jeans sieht der 27-Jährige gepflegt aus. Seine Wurzeln liegen in Mittelamerika, seine Heimat ist Hamburg. Ramon sitzt auf einem Stuhl in Fleths Büro neben dem Anmeldezimmer, es ist der einzige Raum, in dem Ruhe für ein vertrauliches Gespräch ist. Keiner aus seiner Familie weiß, dass er im Winternotprogramm ist. Ramon braucht Abstand.
Im November 2007 holt er eine Flasche Jack Daniels an der Tankstelle, trinkt sie fast leer und schneidet sich den linken Arm auf. Seine Mutter findet ihn in der Wohnung. Er wird in die psychiatrische Klinik Ochsenzoll gebracht.
Ramon erzählt mit ruhiger Stimme auch von den Medikamenten, die er nimmt. „Ich habe im Moment kein Selbstvertrauen.“ Er zieht die Ärmel seines Pullis hoch. Seine Unterarme sind mit Schnittwunden übersäht. An der rechten Hand baumelt ein Gummiband. „Das ist ein Skill“, sagt er, eine Stärkung, die er bei der Therapie in der Klinik bekam. Wenn dunkle Gedanken kommen, soll ihn das Gummiband ablenken. Er zieht daran. Mit einem Mal steigen ihm Tränen in die Augen. „Ich weiß nicht, was los ist!“ Ramon blickt auf den Tisch. „Ein Gefühl baut sich in mir auf, das sich anfühlt wie Schuld. Als hätte ich etwas Schlimmes getan. Es ist aber nichts!“
Seit er zwei ist, verprügelt ihn der Stiefvater regelmäßig. Später kommt er in Kontakt mit dem kriminellen Milieu. Als er im Februar aus dem Krankenhaus kommt, will er alleine sein, aber nicht ganz. Am Hauptbahnhof sieht er das Schild „Bahnhofsmission“. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter geben ihm den Tipp mit dem Winternotprogramm. „Früher habe ich zu Pennern höchstens gesagt: ,Verpiss dich!‘ Aber jetzt …“ Ramon holt Luft. „Ich habe Mitgefühl mit ihnen.“
Früher. Früher hatte Ramon ein Motto: „Egal welches Problem, es wird schnell gelöst.“ Heute hat Ramon eine Sehnsucht. Er zieht die Ärmel herunter: „Ich möchte wieder normal sein.“ Dafür braucht er Zeit. Und Hilfe. „Ich gehe entweder zu meiner Familie zurück oder in die Klinik.“ Er hat noch ein paar Tage, um herauszufinden, was ihm jetzt gut tut. Dann muss er das Haus verlassen, wie alle anderen auch.
Vor dem Haus leuchtet eine japanische Blütenkirsche in rosa Pracht – das Winternotquartier schließt bald. Voraussichtlich am 7. April, vielleicht eine Woche später, je nach Witterung, endet das Hilfsprogramm für diese Saison. „Jetzt müssen sich unsere Übernachter Gedanken machen, wie es weitergeht“, sagt Eleonore Fleth. Bislang, berichtet sie, fanden 55 ihrer Gäste in diesem Winter ein dauerhaftes Obdach: in einer anderen Notunterkunft, in einer Wohnung oder bei der Familie.
In der Abstellkammer im Erdgeschoss liegen blaue Müllsäcke mit Sachen von Kunden, die nicht wiedergekommen sind. „Zim. 21, Bett 2, 12.2.08“ steht auf einem angehefteten Zettel. „Im vergangenen Jahr standen am letzten Öffnungstag plötzlich 50 Übernachter bei mir auf der Matte und wollten in eine dauerhafte Unterkunft vermittelt werden“, erzählt Fleth. So kurzfristig geht das kaum. Doch viele schieben auch in diesem Jahr ihre Pläne für die Zukunft vor sich her. Peter sagt: „Es sind ja noch zwei Wochen Zeit.“ Klaus und Nena dagegen wissen schon, wie es für sie weitergeht, sie möchten wieder auf der Straße leben. „Vielleicht bleiben wir in Hamburg oder wir ziehen durch andere Länder.“ Im Herbst wollen sie heiraten. Sie bleiben nur für eine Nacht in der Sportallee. Am nächsten Tag schlafen sie unter der Kennedybrücke.
Gerhard Goike geht langsam in den Aufenthaltsraum, ohne Stock. Der 70-Jährige humpelt, seit er vor fast 15 Jahren mit der Hüfte auf einen Bordstein fiel. Sechs Monate lag er im Krankenhaus und bekam dort ein künstliches Hüftgelenk. In dieser Zeit wurde seine Billstedter Wohnung gekündigt und vom Vermieter ausgeräumt. Als er vor gut vier Monaten zum ersten Mal in die Sportallee kam, musste Goike wie alle anderen Übernachter zur Tuberkulose-Untersuchung ins Gesundheitsamt gehen. Die Röntgenaufnahme zeigte einen Schatten auf der Lunge. Keine Tbc, aber Grund genug, dass ein Lungenfacharzt noch einmal genau hinschaut. Dabei stellte sich heraus, dass er keine Krankenkasse hat.
Am 12. November 2007 füllte er einen Antrag bei der AOK aus und legte den geforderten Rentenverlauf vor. Seitdem ist nichts passiert. Die Krankenkasse ist gesetzlich verpflichtet, ihn aufzunehmen. Doch sie fordert bis heute immer weitere Belege. Beispielsweise sollte der alte Mann seine Schulbildung nachweisen.
Am liebsten hätte Gerhard Goike eine Ein-Zimmer-Wohung. Aber die ist schwer zu finden. Seit 15 Jahren lebt er auf der Straße. Seine fünf Kinder wissen davon nichts: „Ich habe keine Kinder in die Welt gesetzt, damit sie mich ernähren müssen.“ Zu Weihnachten fuhr er ein paar Tage nach Bremerförde und feierte mit der Familie. Dann fuhr er wieder nach Hause, in das Winternotprogramm.
Viele der Übernachter wollen es alleine schaffen, ohne Familie, ohne Freunde. Manche müssen es alleine schaffen. Ein Leben auf einer langen, leeren Straße.
Eleonore Fleth ist da. Wenn Klaus Triebe, 67, sich zu ihr an den Schreibtisch setzt, hinter seinem weißen Rauschebart lacht und seine Geschichten erzählt, lacht sie mit ihm. Wenn ein Gast kommt und ihr ein zerknülltes Handtuch geben will, wird sie jedoch nicht zum Mütterchen, das alle betüttelt, sondern sagt stattdessen: „Das gebrauchte Handtuch bitte in den Hygieneraum.“ Sie ist liebevoll und klar. Das ist das Schönste, was jemand an diesem Ort sein kann.
Früher war das Notquartier zum Großteil in einem Wohnschiff auf der Elbe untergebracht, auf der Bibby Challenge. Viele Besucher klagten über Diebstähle, Dreck und Drogen in den Schlafsälen. Heute kann es auch in der Sportallee vorkommen, dass ein Becher mit Cola nach Brandy riecht. Nachts um zwölf kann eine Schlammspur in den Duschen liegen. Doch Klagen sind kaum zu hören. Für Wertsachen gibt es Schließfächer. Abends gibt es im Gegensatz zu früher ein warmes Essen. Alle Räume werden täglich geputzt.
Obwohl so viele Menschen im Haus sind, die einen harten Alltag haben, sind nur selten laute Stimmen oder Streitigkeiten zu hören. Der Ruhepol schafft Frieden. „Wir können jetzt nicht auf meinem Zimmer sprechen“, sagt Peter, „da schläft schon jemand.“ Mit den vier Mitarbeitern und den Kollegen von fördern & wohnen hat Eleonore Fleth einen Winterhafen geschaffen.
Bald müssen alle das Haus verlassen und auf die Straße gehen. Sie wird in eine der städtischen Notunterkünfte führen, die das ganze Jahr über geöffnet sind. Oder zu einer eigenen Wohnung. Oder in die Einsamkeit. Oder zu einem Schlafplatz auf Asphalt. In einem halben Jahr beginnt das neue Winternotprogramm. Bis dahin kann viel passieren.
Joachim Wehnelt
GUT 200 ZUSÄTZLICHE SCHLAFPLÄTZE stellen Stadt und Kirchengemeinden von November bis April bereit, um Obdachlosen Schutz vor dem Erfrieren zu bieten. Bis zu 100 Plätze in Vierbett-Zimmern bietet die Unterkunft Sportallee, 85 die Zwei-Bett-Container, die neben Kirchengemeinden stehen. Weitere Not-Schlafplätze bietet das Pik As.
Laut fördern & wohnen nutzten bis Ende März 666 Obdachlose die Unterkunft Sportallee: 583 Männer und 83 Frauen. Im Winter zuvor waren es etwas weniger, nämlich 629 Obdachlose (596 Männer und 33 Frauen). Insgesamt nutzten 2006/2007 rund 750 Obdachlose das Winternotprogramm, so die Sozialbehörde. Wie viele es diesen Winter waren, sei noch nicht bekannt.
140 Nutzer des Notprogramms, so die Sozialbehörde, konnten im Winter 2006/2007 in feste Unterkünfte vermittelt werden. 86 zogen in eine der städtischen Unterkünfte, die ganzjährig geöffnet sind. 37 hätten eine eigene Wohnung gefunden, zehn seien in Wohnprojekte gezogen, fünf in eine stationäre Einrichtung. Was aus den gut 600 anderen Obdachlosen wurde, ist nicht bekannt.
Zur Sportallee fährt der Pendelbus der Caritas täglich vom Hauptbahnhof aus, um 18.30, 19.30 und 20.30 Uhr. Der städtische Träger des Hauses erhält nach Angaben der Behörde für Soziales rund 175.000 Euro der 400.000 Euro, die das Programm kostet.