Fremdgänger

Ausländische Jugendliche über ihr Leben mit den Deutschen

(aus Hinz&Kunzt 144/Februar 2005)

Barbaras Blick ist schüchtern und stark zugleich, eine Spur fragend aus dunklen Augen. José grinst breit und guckt sein Gegenüber direkt an, eindringlich und intensiv. Die beiden würden auf die Oberstufe eines Gymnasiums passen oder in einen Uni-Kurs. Sie tragen Strickpullis gegen die unfreund-liche Winter-Nässe und schieben sich die blonden Haare aus dem Gesicht. Beide sind 18, sie kommen aus Eldorado Misiones, einer Stadt im argentinischen Urwald. Ihre Vorfah-en waren deutsche Einwanderer.

Die beiden Freunde haben nach dem Schulabschluss ihr Land verlas-sen, um eine andere Kultur kennen zu lernen. Doch vor allem, um sich etwas zu beweisen, „einen Wettkampf mit sich selbst auszutragen“, sagt José.

Er kam vor einem Jahr nach Deutschland. In der ersten Woche hatte er noch 30 Euro im Portmonee. Um Geld zu verdienen, verteilte er für einen Arzt Flugblätter zur Gesundheitsreform und spielte in einem Seniorencafé Klavier. Als er aus Argentinien abreiste, war es 30 Grad warm, als er in Hamburg ankam, gefror nachts der Boden. Auf der Suche nach einem Schlafplatz klopfte er an die Pforte einer Kirche und wurde im biblischen Sinne von einem Pfarrer aufgenommen, bei dem er seitdem lebt. Barbaras Geschichte ist ähnlich. Sie kam vor sechs Monaten nach Hamburg, arbeitet jetzt in einem Restaurant an der Bar und lernt im Diakoniecafé „Why not?“ Deutsch.

Die Sprache ist anfangs das größte Problem, meinen beide. „Du kennst die üblichen Löhne nicht, weißt nicht, was eine Lohnsteuerkarte ist, und wenn du es wüsstest, würde dir das auch nicht helfen, weil du sie nicht lesen kannst. Das macht dich ausnutzbar“, sagt José. Die einzige Mög-lichkeit ist, auf niedrigstem Niveau zu jobben, weil für bessere Arbeits-plätze gute Deutschkenntnisse Voraussetzung sind. „Aber um einen Sprachkurs zu bezahlen und hier zu leben, brauchst du wieder Geld.“

Beide würden gerne in Hamburg studieren, doch versperrt ihnen die Bürokratie den Weg. Sie müssten in zwei Semestern das Abitur nachmachen, vor allem um Fächer zu lernen, die sie in Argentinien nie gehabt haben: deutsche Geografie und Geschichte.

Trotzdem, sie wollen auf jeden Fall noch bleiben. „Hier bist du in der Welt. In Argentinien waren wir immer so weit weg von allem“, sagt José. Er leistet zur Zeit in einer sozialen Tagesstätte seinen Zivildienst ab, dank deutschstämmiger Eltern und Bürokratenlogik. Barbara will unsere Sprache fließend sprechen lernen. Ihr gefällt die Ruhe auf den Straßen und das ständig wechselnde Wetter. José findet die Deutschen sehr ehrlich und direkt, „weil sie nie schwarz fahren und immer sagen, was sie denken“. Er findet aber auch, dass sie zu ernst sind, ihren Urlaub ein Jahr im Voraus planen. Dass sie immer arbeiten oder über Arbeit nachdenken und dabei vielleicht das richtige Leben verpassen. Und beiden fällt der Mangel an Nationalgefühl auf. „Keiner sagt, dass er Deutscher ist, sondern immer nur, dass er aus Hamburg oder München kommt.“ Das sei so, „als hätten sie Angst, für Nazis gehalten zu werden. Außerdem gibt es hier so viele alte Leute auf den Straßen. Warum kriegen die Deutschen erst so spät Kinder? Und warum immer nur eines?“

Hinter Ohlstedt, in einem Viertel voller Einfamilienhäuser mit großen Gärten, sitzen die Freunde Wahed (19) und Ali (18) im Computerraum des Jugendmigrationsdienstes Alstertal. Wahed und Ali waren Kinder, als sie vor neun Jahren mit ihren Eltern als afghanische Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Viel wussten sie vorher nicht über ihre neue Heimat. Sie erinnern sich vage, ein modernes, reiches Land erwartet zu haben. Die Sprache war kein Problem. Sie kamen in Vorbereitungsklassen, gingen zur Schule, und alle ihre Mitschüler sprachen Deutsch.

Inzwischen gehen Wahed und Ali aufs Gymnasium und wollen Abitur machen. Sie tragen die Haare zurückgegelt, geben sich gern in jeder Lebenslage cool, surfen im Internet. Zwei ganz normale Jugendliche, nur dass sie aus einer islamischen Familie kommen, nur dass sie statt einer Aufenthaltsgenehmigung eine begrenzte Duldung erhalten haben. Um bleiben zu dürfen, müssen sie sich durch die Behörden kämpfen, Sachbearbeiter überzeugen – und trauen sich nicht zu reisen, aus Angst, sie könnten nicht wieder zurück über die Grenze. Ihre Familien leben über die halbe Welt verstreut, im Iran, in Afghanistan, in Holland und England. „Wir haben die meisten Verwandten seit Jahren nicht gesehen, das ist am schwersten“, sagt Wahed. Und während in Afghanistan an islamischen Feiertagen Schulen und Geschäfte schließen, „wissen wir hier nicht einmal, ob wir Zeit haben zu feiern“.

Ihre Eltern sprechen bis heute nicht richtig die fremde Sprache. „Sie fragen sich oft, ob es richtig war, nach Deutschland zu kommen.“ Wahed und Ali stellen sich diese Frage nicht. Es war nicht ihre Ent-scheidung auszuwandern. Aber sie haben einen Großteil ihres Lebens in Hamburg verbracht und würden gerne, trotz aller Schwierigkeiten, eine dauerhafte Aufenthaltgenehmigung bekommen, einen Beruf lernen oder studieren. Noch einmal in ein anderes Land zu ziehen käme nicht in Frage. Würden sie zurück nach Afghanistan gehen? „Vielleicht. Afghanistan ist unsere Heimat. Aber es müsste ein freies Land mit einer starken Regierung werden, ohne fremde Truppen und mit einer Zukunft.“ Afghanistan, das sei das Land ihrer Geburt, ihrer Herkunft, ihrer persönlichen Geschichte. „Deutschland ist unsere zweite Heimat geworden“, sagt Ali. Wenn sie heute an Zuhause denken, dann ist ihr erster Gedanke „unsere Eltern, unsere Wohnung in Hamburg – und erst der zweite Gedanke ist Afghanistan“.

Sarah Stoffers

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