Der Berliner Fotograf Michael Dressel lebt seit mehr als drei Jahrzehnten in Los Angeles. In seinem neuen Bildband zeigt er Mensch und Natur am Abgrund des maroden US-Kapitalismus.
Der Titel entstand an einem Kneipentresen in Los Angeles. Eigentlich wollte Michael Dressel seinen neuen Bildband „This will not end well“ nennen, das wird nicht gut enden. Aber beim Bier mit einem Freundesbesuch, dem bekannten englischen Poeten John Tottenham, hatte der eine Idee: Noch passender sei doch „The End is Near, Here“. Die Vereinigten Staaten von Amerika am Vorabend einer womöglich endgültig demokratiezerstörenden Wahl, nahe am unwiderruflichen Abgrund. Ja, fand Dressel spontan, „das trifft den Kern, was meine Bilder zeigen wollen“.
Mehr als 200 Millionen Wahlberechtigte sind am 5. November aufgerufen, den 48. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika zu wählen. Jeder Bundesstaat entsendet anschließend aufgrund des eigenen Wahlergebnisses und entsprechend der Einwohnerzahl sogenannte Wahlmänner und -frauen nach Washington. Die bestimmen Anfang Januar 2025 formell den Präsidenten. Es gewinnt aber nicht zwingend der Kandidat mit den landesweit meisten Stimmen (2016 etwa Hillary Clinton), sondern der mit den meisten Wahlleuten (2016 Donald Trump). Dass Letzteres auch diesmal wieder passiert, ist Dressels große Befürchtung: „Vier Jahre Trump als Präsident zu erleben war eine Tortur.“ Dass dieser Mann „überhaupt noch mal im Rennen sein kann, bezeugt nur, dass in der amerikanischen Gesellschaft etwas fundamental kaputt ist“.
„Es schmerzt mich zu sehen, in was sich das Land verwandelt hat.“
Dressel, der beim Videocall aus seinem kleinen Haus in Downtown L.A. immer noch mächtig sympathisch berlinert, ist ein Wanderer zwischen Ost und West. 1958 in Ostberlin als Sohn eines Sportfotografen geboren und „von Kindesbeinen an im Fotolabor aufgewachsen“, studierte er nach dem Abitur zwei Semester Bühnenbild an der Kunsthochschule Weißensee. Für einen freiheitsliebenden Geist wie ihn trotzdem nicht genug: Er wagte einen Fluchtversuch, wurde erwischt und für zwei Jahre im DDR-Knast weggesperrt. 1984 kam die Ausbürgerung, auf seinen anschließenden Reisen freundete er sich mit Amerikaner:innen an, ging mit ihnen nach Los Angeles und blieb. Lange Jahre arbeitete er – „ich bin da zufällig so reingerutscht“ – als „Soundeditor“ in Hollywood, und er ist sogar Mitglied der Oscar-Academy, die alljährlich die berühmten Filmpreise verleiht. In den letzten Jahren ließ er aber seiner Leidenschaft für Fotografie wieder freien Lauf. „Ich liebe dieses Land, es war sehr gut zu mir“, sagt Dressel, dem Amerika mehr als nur zweite Heimat geworden ist. „Und deswegen schmerzt es mich ungemein zu sehen, in was es sich verwandelt hat.“
In „The End is Near, Here“ zeigt Dressel Gesichter und Landschaften, wie sie ihm täglich in Vielzahl begegnen. Die vom kaputten Kapitalismus gezeichnet sind, der Millionen Menschen ausspuckt und sie an den Rand der Gesellschaft treibt. Bedrückende Porträts sind das, von bitterer Armut, religiösem Wahn und blindem Polit-Fanatismus – weil da sonst nichts ist, um noch Halt zu finden. Kinder auf einer Waffenschau, bettelnde Wohnungslose hinter einem Jesus-Gemälde, durchgeknallte Trump-Fans in den aberwitzigsten Kostümierungen. Dressels Gesellschaftsgemälde dokumentiert das Gegenteil des amerikanischen Traums vom Aufstieg für alle. Es zeigt stattdessen das tiefe Trauma einer zerrissenen Nation mit viel zu vielen Verlierern. Er habe dieses Buch nicht wirklich geplant, es sei ihm aus der Seele gesprungen: „Mein Gefühl der Bedrückung war so stark, dass ich vor einem Jahr dachte: Okay, jetzt machste mal eine Sequenz von Bildern, in der sich klar ausdrückt, wie ich dieses Land fünf Minuten vor der Katastrophe sehe.“
Und nein, er sei nicht wirklich optimistisch, dass sich etwas entscheidend zum Besseren wende, falls Trump nun doch nicht gewählt wird, sondern die amtierende Vizepräsidentin und Demokratin Kamala Harris. Denn eines sei ihm erst kürzlich bewusst geworden: „Ich bin ja vom Osten indoktriniert, wir hatten zweimal die Woche Unterricht in Marxismus-Leninismus und bekamen dort immer wieder die Endphase des Monopolkapitalismus vorgehalten, wie das dann aussieht. Und weeste was: Genau da sind wir gefühlt gerade!“