Wie der Schauspieler Dietmar Mues den Gescheiterten eine Stimme gibt
(aus Hinz&Kunzt 117/November 2002)
Er hat als Gollum im Herrn der Ringe Furore gemacht, er war Karl May und Jack the Ripper. Trotzdem kann sich der Schauspieler Dietmar Mues, seit über 30 Jahren im Geschäft, völlig unbehelligt durch die Stadt bewegen. Denn erkannt wird nicht sein Gesicht, sondern seine Stimme.
Mit diesem sonoren Bass, der in unendlichen Variationen wispern und flüstern, poltern, schmeicheln, spotten, schimpfen und schreien kann, hat der 57-Jährige in drei Dutzend Hörspielen die unterschiedlichsten Figuren zum Leben erweckt. Für ihn bedeutet diese Arbeit nicht einfach zu sprechen, sondern eben spielen, „weil man ja mit seiner Stimme den Figuren einen Körper gibt, so dass der Hörer sie in seiner Phantasie vor sich sieht“.
Tatsächlich gelingt es Dietmar Mues, von abgrundtiefer Verzweiflung über milde Depression, wohlige Resignation bis zu offenem Hass vor allem die dunkleren Facetten der menschlichen Seele eindrucksvoll zu verkörpern. Er liebt das. Seine braunen Augen leuchten, wenn er von „den spannenden Manuskripten und den Autoren, die noch wirklich was wollen“, schwärmt, die man beim Hörspiel, dieser „freien Insel“ im Kulturbetrieb, entdecken könne.
Und weil man aufpassen sollte auf das, was man liebt, ist er wählerisch, wofür er seine Stimme hergibt. Er leiht sie nicht aus an andere Schauspieler, deshalb kann man ihn nicht als Synchronsprecher buchen. Wohl aber, um Dokumentarfilme zu vertonen. Man hat von ihm, anders als von anderen berühmten Stimmen, auch noch keine Produktwerbung gehört.
Nein zu sagen, das habe er schon bei seiner Ausbildung bei Eduard Marks an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst gelernt. „Denken fängt mit Nein sagen an.“ Beinahe triumphierend verkündet er dieses Credo, mit dem er sich im Laufe seines Lebens zwar den einen oder anderen Ärger, aber auch jede Menge Spaß eingehandelt hat. Denn mit der gleichen Leidenschaft, mit der er sich gegen etwas entscheiden kann – gegen einen Langzeit-Vertrag in der Lindenstraße beispielsweise oder eine Verlängerung der immerhin zwölfjährigen Zugehörigkeit zum Schauspielhaus-Ensemble –, begeistert er sich für andere Projekte: Wenn er gemeinsam mit Jazz-Musikern wie Dieter Glawischnig auf Tournee geht und Ernst Jandl zum Besten gibt, und für den Tucholsky-Abend, den er seit zwölf Jahren gemeinsam mit Hannelore Hoger und Joachim Kuntzsch aufführt.
Oder jetzt eben „Leben bis Männer“, die bittere Rückschau eines Mannes, der seine Erfahrungen und sein Scheitern in den Begriffen des Fußballs zu fassen und zu ordnen versucht. In ausgeleierter Jacke sitzt Dietmar Mues räsonierend auf der Bank am Rande eines Bolzplatzes, zieht die Linien nach, pumpt den Ball auf, bis er fast platzt, und erzählt aus seinem Leben als Freizeittrainer in der ostdeutschen Provinz: „Andere hatten ihre Familien, ich hatte Tatkraft Börde!“ – „Erst der Sieg der DDR hat den DFB zur BRD gemacht“ oder „Wenn gespielt wird, kommt das komplette übrige Leben zum Erliegen!“ sind einige seiner Lebensweisheiten, bei denen das Publikum zwar lacht, aber doch zunehmend traurig wird. Denn je länger man ihm zuhört, umso mehr fürchtet man, dass diese „Jungs“, die er über den Platz scheucht und die alles sind, was dem Trainer geblieben ist, dass die vielleicht gar nicht kommen werden, sondern auch nur noch in seiner Erinnerung existieren.
Dietmar Mues glaubt das auch. Er selbst hat nur mal in einer Theatermannschaft gekickt, aber darum gehe es auch nicht in diesem Ein-Personen Stück von Thomas Brussig. „Es geht um diesen zugegebenermaßen spezifisch männlichen Wahnsinn, der genauso gut im Hobbykeller stattfinden kann wie auf dem Fußballplatz. Diese Manie, nicht nur seine gesamte Zeit und Energie in eine Sache zu stecken, sondern auch noch eine komplette Philosophie dazu zu erfinden.“ Grinsend wird er später zugeben, Schach zu spielen – aber nicht manisch, versteht sich.
In „Leben bis Männer“ macht er vor allem die Verzweiflung sichtbar, die hinter diesem Wahnsinn verborgen ist, ein Scheitern, das vor allem deshalb so tragisch ist, weil dieser Trainer selbst permanent einer Welt das Wort redet, in der nur Gewinner Platz haben.
„Den Gescheiterten eine Stimme zu geben“, das sieht Dietmar Mues nicht nur als künstlerische Herausforderung, sondern auch als politische Aufgabe, und das fordert er auch vom Theater, das „nicht nur fürs internationale Feuilleton spielt, sondern etwas mit der Stadt zu tun haben muss, in der es steht“.
Damit er diese hohen Anforderungen erfüllt, hat er fast drei Monate für „Leben bis Männer“ geprobt: Ist eisern jeden Vormittag den Kollau-Wanderweg abgeschritten und hat den Text auf den Karteikärtchen auswendig gelernt, hat Freunde, Bekannte und Kollegen in die Proben gebeten und sich ihrer Kritik gestellt – und nach jeder Vorstellung geht er das Ganze noch einmal mit einer jungen Kollegin durch, um zu sehen, was man noch besser machen könnte. Und das alles, wie er dann doch mal sagen muss, für eine Gage, die er sich nur leisten kann, weil er noch die ein oder andere gut bezahlte Nebenrolle im „Tatort“ spielt.
Doch schon im nächsten Satz sagt er mit großem Ernst: „Ich habe einfach wahnsinnig viel Glück gehabt! Dass ich mich so lange als freier Schauspieler halten konnte und mir meine Projekte wirklich aussuchen kann – andere, hervorragende Leute, sind untergegangen, nur weil sie vielleicht nicht im richtigen Moment am richtigen Ort waren.“
Trotz solcher hautnahen Erfahrungen mit den Grausamkeiten des Berufs sind seine beiden älteren Söhne Wanja und Jona auch Schauspieler – oder jedenfalls dabei, es zu werden. Und der 11-jährige Woody hat bei seinem Vater gerade ein Kinderbuch in Auftrag gegeben. 150 Seiten davon hat Dietmar Mues schon fertig. Breit grinsend sagt er, dass er „solche zurückgezogenen Projekte“ sehr genießt. Möglicherweise eine neue Leidenschaft, die der Büchernarr ohne Abitur, der auch schon Drehbücher verfasst hat, da entdeckt hat.
Diesen Mut, immer wieder neues Terrain zu betreten, schöpfe er auch aus der Sicherheit, „in einem System zu leben, das Scheitern zulässt“. Dazu zählt natürlich seine Frau, mit der er seit 29 Jahren verheiratet ist, und die vermutlich genauso lange dafür sorgt, dass er zwischen all seinen Projekten nicht den Überblick verliert. Dazu zählen aber auch Kollegen, mit denen er sich beinahe ohne ein Wort verständigen kann, seine langjährigen „Kaffeehausfreunde“, mit denen er noch immer freudig die Welt im Allgemeinen und Besonderen debattiert. Dieses persönliche „Sicherheitsnetz“ ist vermutlich ein wichtiger Teil von dem, was er als „Glück“ bezeichnet – neben seiner Erfahrung, seiner Professionalität und dieser unnachahmlichen Stimme.