Genitalverstümmelung – die Geschichte eines Mädchens aus Eritrea
(aus Hinz&Kunzt 138/August 2004, Die Verkäuferausgabe)
Hinz & Künztlerin Laura hat für viele afrikanische Frauen gedolmetscht, die ein gemeinsames Schicksal haben: Sie wurden in ihrer Heimat beschnitten, oder sie sind vor der Beschneidung geflohen. Aus den Erzählungen der Frauen komponierte sie die Geschichte von Kraa-Gool, einem Flüchtlingsmädchen aus Eritrea.
Ich bin Kraa-Gool. Ich bin fast 14 Jahre alt. In Hamburg bin ich seit einem Jahr und kann auch schon recht gut Deutsch. Ich stamme aus einem kleinen Grenzdorf in Eritrea. Mein Großvater war stolz, Abessinier gewesen zu sein. Meine Großmutter ist stolz, koptische Christin zu sein. Auch die Dorfhebamme ist darauf stolz.
Mama ist auf nichts stolz. Sie sagt, bei uns im Dorf ist Nachtzeit oder Mondzeit, besonders für Mädchen. Die Heimatländer anderer Leute haben Sonnenzeit. Mama freut sich, dass ich gut gewachsen bin. „Das soll auch so bleiben“, sagt sie oft. Sie sagt es sehr oft, seitdem wir hier sind, als Flüchtlinge. Warum so viele Leute in der Heimat stolz sind, verstehe ich nicht. Wir mussten als Flüchtlinge Afrika verlassen, und sie konnten uns nicht helfen. Mama sagt, „Flucht – das ist die beste Lösung“, lächelt und träumt mit offenen Augen.
Das war kurz vor meinem großen Tag. Ich sollte zu Hause eine ausgewachsene Frau werden und einen weiteren Namen bekommen. Die Dorfhebamme erzählte mir und allen, wie stark ich dann sein würde, wie gut ich jede schwere Arbeit machen könnte. „Strong, strong“, erklärte sie den Technikern aus Europa. Sie redete und redete.
Mama bekam traurige Augen. „Der große Tag“ sei nicht gut für junge Mädchen, stöhnte sie. Er ist ein Gefühl, als ob sie einem Herz und Bauch aufschlitzen. Die Großeltern fanden solche Reden nicht gut. Sie würden mir Angst machen, und ich würde die ganze Familie blamieren, meinten sie. Ich wusste nicht, wer die Wahrheit sagt, als plötzlich eines Nachts Mama hastig zu mir sagte: „Komm schnell, wir fliehen, sofort! Sei leise! Der Techniker aus Europa, der den Dorfbrunnen baut, hilft uns. Komm, wir gehen zum Hubschrauber, aber sei leise.“ Der Techniker vom Brunnen war nett und hat Mama sehr geholfen. „Wegen dir“, sagte sie zu mir.
Der „große Tag“ für uns Dorfmädchen heißt in Deutschland „Beschneidung“, und manche Menschen hier sind dagegen. Ich habe immer mehr Angst davor und will nicht zurückkehren und „strong“ werden. Mama und ich haben hier eine Duldung…
Laura
Die Beschneidung
Von der Genitalverstümmelung sind Mädchen bis etwa 14 Jahre bedroht. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt die Zahl beschnittener Frauen auf 130 bis 150 Millionen. Am weitesten verbreitet ist die Amputation des Kitzlers und der kleinen Schamlippen. Beschnitten wird meist ohne Narkose, ohne chirurgische Instrumente, oft unter katastrophalen hygienischen Bedingungen und von inkompetentem Personal, wie Heilerinnen, Hebammen, Barbieren und Stammesältesten. Als Instrumente werden Rasierklingen, Glasscherben, Messer, Scheren und Konservenbleche verwendet.
Das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist verletzt, Frauen bekommen Wundstarrkrampf oder Blutvergiftung, bis hin zum Tod. Auch seelische und sexuelle Probleme sind die Folge. Der „Heiratswert“ verstümmelter Frauen gilt als hoch, da man davon ausgeht, dass sie wegen der Minimierung des Sexualtriebs weder in Versuchung kommen, untreu zu werden, noch in ihrem Arbeitswillen abgelenkt werden.
Die Beschneidung, die vornehmlich in Afrika, aber auch in Asien oder Australien vorgenommen wird, hat heidnische Wurzeln. 1993 verurteilten die Vereinten Nationen die weibliche Genital-Amputation. Seit 1997 sollen Länder mit entsprechenden Körperverletzungs-Praktiken schwerer Zugang zu Krediten von Weltbank und Internationalem Währungsfond haben. In Ägypten ist die „Frauenbeschnei dung“ mit höchster islamischer Absegnung seit 1998 zwar offiziell verboten, der Schutz der Frauen ist trotzdem nicht gewährleistet.
Vielerorts werden weiterhin Amputationen als Massenritual vorgenommen. Selbst Frauen und Mädchen, die in Europa und den USA leben, werden beschnitten, entweder vor Ort oder im Heimatland. Der Einfluss der Urkultur bleibt mächtig. Drohende Beschneidung ist zum Beispiel in Deutschland nicht unbedingt als Asylgrund anerkannt.