Gleb Lenz betreibt einen kleinen Frisiersalon in Altona. Daneben beschäftigen ihn menschliche Schicksale, Einsamkeit, Liebe, Träume. So kommt es, dass der Friseur, während er Haare schneidet und Dauerwellen legt, seinen Kunden Geschichten erzählt. Eine davon will er sogar verfilmen. Wie das geht, weiß er: Mit seiner blühenden Fantasie hat es Gleb Lenz schließlich geschafft, Protagonist eines Dokumentarfilms zu werden, der auf der Berlinale zu sehen war.
(aus Hinz&Kunzt 207/Mai 2010)
Neulich ging Gleb Lenz über einen roten Teppich. Gab Interviews, genoss den Applaus. In Berlin war das, bei der Berlinale. Gleb Lenz war dort als Hauptperson in dem Dokumentarfilm „Glebs Film“ zu sehen. Gezeigt wird darin, wie er in seinem Frisiersalon Haare schneidet, Locken legt, Augenbrauen färbt und dabei mit seinen Kunden über seine Filmidee spricht: einen Spielfilm über einen nicht mehr ganz jungen Mann, der stundenlang in zerrissenen Hosen auf der Straße steht; der arbeitslos und obdachlos ist und dem Herr Lenz eines Tages die wirren Haare schneidet. „Für mich heißt dieser Mann – Florian“, sagt Herr Lenz.
„Der Film, kann man schon sagen, war ein kleiner Erfolg“, erzählt er weiter. „Aber viele haben mich hinterher gefragt: Und? Machen Sie diesen Film über diesen Florian jetzt wirklich?“ Ja, das hat er vor. So, wie er auch weiter mit seinen Kunden über seine Filmidee plaudert.
„Ach, die Geschichte schon wieder; ich kann die nicht mehr hören“, stöhnt denn auch Frau Niemann. Frau Niemann sitzt im Frisierstuhl, ihre Haare verschwinden unter einer Trockenhaube. Frau Niemann kommt wie viele aus der Nachbarschaft. Sie erhält heute eine Dauerwelle. Das dauert.
„Sind Sie manchmal depressiv?“, fragt er sie. „Kommt drauf an“, antwortet Frau Niemann. Herr Lenz nickt: „Hat ja jeder mal. Man will auf das Dach steigen und …“
Gerade hat er in der Zeitung gelesen, dass sich jeden Tag drei Menschen vor einen Zug werfen, im Durchschnitt.
„Drei!“, sagt Herr Lenz. „Aber warum machen die das?“
„Weil sie es satt haben. Da hat man seine Ruhe …“, erklärt Frau Niemann.
Das will Herr Lenz nicht gelten lassen: „Es gibt aber auch schöne Sachen im Leben. Wenn man verliebt ist …“
„Ja, aber das dicke Ende kommt auch“, lacht Frau Niemann.
„Ahhhh“, macht Herr Lenz, wie er es immer macht, wenn ihn etwas sehr erstaunt. Dann fragt er: „Was meinen Sie mit ‚das dicke Ende‘?“
„Na, bleiben Sie ewig verliebt? Der Alltag …“
„Ich weiß, aber diese Droge für kurze Zeit ist ja da, dieses Verliebtsein …“ – Herr Lenz schaut beseelt an die Decke.
„Das Verliebtsein dauert vielleicht ein halbes Jahr. Aber eine Ehe dauert vielleicht 50 Jahre!“, sagt Frau Niemann. Sie hebt den Zeigefinger: „Unter guten Voraussetzungen!“
Herr Lenz nickt versonnen.
„Ach, man muss abwägen, generell“, spricht Frau Niemann weiter: „Ist das Leben gut – dann kann ich ja leben, ist es nur Mist – dann kann ich mich aufhängen.“
Herr Lenz schweigt. Er bestreicht ihr Haar mit einer weißen Tinktur, stellt den Wecker. Zehn Minuten muss die Tinktur jetzt einziehen.
Jedenfalls der Film: Es gibt in dem Film nicht nur Florian in seiner zerrissenen Hose. Es gibt auch Claudia. Claudia hat lange bei ihrer Mutter gelebt, ist einsam und arbeitslos wie Florian. Und Claudia ist ein wenig dicker: „So 140 Kilo“, sagt Herr Lenz: „90, das wäre zu wenig, das ist ja fast normal. 200 wäre wieder zu viel.“ Und wie nun Florian, in der zerrissenen Hose, wie er auf der Straße steht, und die einsame, arbeitslose Claudia zueinanderfinden, davon soll sein Film handeln.
„Ein bisschen Action, aber auch Liebe, dazu Nahaufnahmen: Aus all diesen Zutaten soll mein Film bestehen – wie ein Gericht“, sagt Herr Lenz. „Es soll nicht ganz oberflächlich werden, eine philosophische Note soll auch sein. Eine Szene wird auch in Afghanistan spielen“, sagt Herr Lenz. Weil doch Florian als Polizist in Afghanistan war. Und da hat er einiges erleben müssen, weshalb er heute stundenlang auf der Straße steht, in zerrissenen Hosen.
Noch etwas ist ihm wichtig: „Es soll in dem Film auch etwas über heutige Mode erzählt werden. Es geht darum, die Mode ist nicht nur für dünne Frauen gedacht, sondern auch für etwas korpulentere Frauen. Es wäre ja auch diskriminierend, wenn es nur Mode für ganz dünne Frauen gäbe.“ Wie bestellt, klingelt der Wecker. Herr Lenz löst die Lockenwickler, einen nach dem anderen.
Herr Lenz kommt ursprünglich aus Minsk, Weißrussland. 1991 verschlägt es ihn nach Hamburg. Die Stadt gefällt ihm sofort. Er lernt hier auch seine Frau kennen, die ihrerseits aus Kasachstan kommt, eine Deutschstämmige. Deshalb heißt er auch Lenz: „Ich hab den Führungsnamen meiner Frau angenommen“, erzählt er: „Was sollen sich unsere Kinder auch hier in Deutschland mit einem russischen Nachnamen rumplagen.“ Integration mal ganz praktisch.
Herr Lenz liebt das Theater. Er möchte Maskenbildner werden. Dazu muss man vorher eine Friseurlehre machen. Er macht auch noch die Meisterschule, übernimmt dann vor gut zehn Jahren einen Friseursalon in Altona. „Ich bin sehr zufrieden mit diesem Beruf“, sagt er, „aber man möchte im Leben noch eine zweite Karriere haben.“
Der letzte Lockenwickler ist entfernt. Er wäscht Frau Niemann das Haar. „Die Claudia“, beginnt er wieder, „die Claudia in meinem Film, die macht auf Natur; die will naturbelassen bleiben.“ Er spült das Haar aus, trocknet vorsichtig Frau Niemanns Haar ab. „Das Einzige was wir chemisch bei Ihnen machen, ist die Dauerwelle. Alles andere ist Natur.“
Dann – wieder so ein Einfall! Er schließt kurz die Augen, legt los: „Ich habe eine Kundin, die ist so alt wie Sie, Frau Niemann. Die ist noch dicker. Die ist ein bisschen unglücklich in ihrem Leben. Lebt allein, Zwei-Zimmer-Wohnung. Sie hat vor Kurzem noch gearbeitet, weil die Rente doch nicht so ausreichend war.“
Herr Lenz ist fertig mit dem Abtrocknen. „Auf jeden Fall hat sie ein Bein gebrochen – und dadurch war sie noch unglücklicher, die Stimme war nicht mehr so fröhlich. Aber sie hatte noch diesen Job – Telefonsex war das praktisch. Ja, sie hat in ihrem Alter das noch gemacht. Warum? Weil von zu Hause aus kann man das machen; man muss nicht wohin gehen. Aber dadurch, dass ihre Stimme so unglücklich wurde, hat man sie dann gekündigt. Und sie war dann dadurch noch mehr unglücklicher.“
Herr Lenz betrachtet Frau Niemanns Haare. „Aber nun kommt’s: Sie hat so ähnliches Haar wie Sie. Aber sie wollte anders sein. Und sie hat sich Perücken gekauft; verschiedene: lange und kurze – und das ist eben der Punkt, das wollte ich Ihnen sagen: Haben Sie schon mal eine Perücke besessen? Nein? – Weil Sie ein Naturmensch sind!“
Und die beiden prusten laut los. „Doch, doch, das ist wahr“, sagt er, als sie fertig gelacht haben. „Ach, Herr Lenz, sie tüdeln doch“, sagt Frau Niemann und schaut vergnügt in den Spiegel.
Hat er schon eine Idee, welcher Schauspieler den Florian spielen soll? „Ich“, sagt Herr Lenz. Denn er stellt sich Folgendes vor: „Der Florian, mit seiner zerrissenen Hose, durch seinen Knick im Kopf sozusagen, sieht er alle Männer, mit denen er spricht, er sieht sein Gesicht bei denen. Er erkennt die Gesichter von denen nicht, das ist das Sonderbare bei ihm. Er sieht sich selbst in jedem, verstehen Sie?“
Von daher ist es ganz praktisch, wenn Herr Lenz den Florian spielt – und alle anderen Männer gleich mit. „Bei der Claudia geht das natürlich nicht; da muss ich mal schauen“, sagt Herr Lenz. „Auch Florians Mutter und Claudias Mutter – obwohl, ich will das meiste durch Florians Träume zeigen; wenn er sich so erinnert: damals Picknick mit der Mutter am Elbstrand; da ist ja auch Sand – wie in Afghanistan.“
Herr Lenz schneidet noch ein wenig nach. „Das kann man ruhig sehen, dass die Szene in Afghanistan nicht in Afghanistan gedreht ist“, erzählt er, „sondern an der Elbe.“ Er sagt ernst: „Am Ende wird mein Film auf dem Mars spielen.“ Auf dem Mars? „Ja, weil man doch sagt“, sagt Herr Lenz: „,Ich könnte diese ganzen Arbeitslosen auf den Mond, also auf den Mars schießen!‘“ Und er schlägt sich auf die Schenkel, lacht sein herzhaftes Lachen, die Schere in der Hand.
Es wird bestimmt ein toller Film werden. „Ja“, sagt Herr Lenz, „das glaube ich auch.“ Das Drehbuch ist fast fertig, er braucht nur noch eine Kamera, Ton, Licht. „Es soll eine Low-Budget-Produktion werden, aber ein bisschen Geld und Unterstützung bräuchte ich schon; dass es jemand gibt, der mir hilft, weil …“ Herr Lenz stoppt. Herr Lenz hat eine Idee! Herr Lenz sagt: „Vielleicht können Sie das in Ihrer Zeitung ja so schreiben, ja?“
Glebs Film, ein Dokumentarfilm von Christian Hornung, 2009. Weitere Informationen unter: www.glebsfilm.de Friseursalon Lenz, Windhukstraße 15, Telefon 880 05 01
Text: Frank Keil
Foto: Daniel Cramer