Im Ausland ist das Gras nicht grüner
(aus Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)
Rund 20.000 Deutsche wandern jährlich aus? Warum? Und wann sollte man den Traum vom Leben in der Fremde lieber begraben? Ein Gespräch mit Helga Kunkel-Müller von der Evangelischen Auslandsberatung
Hinz&Kunzt: Viele Deutsche wollen auswandern. Warum treibt es sie in die Ferne?
Kunkel-Müller: Nach dem em Zweiten Weltkrieg ging es um den Aufbau einer neuen Existenz, in den 70er- bis 90er-Jahren eher um eine neue Herausforderung. Da war auch Abenteuerlust im Spiel. Nach dem Fall der Mauer haben wir viele Klienten aus den Neuen Bundesländern beraten. Hier war die Sehnsucht nach Freiheit die treibende Kraft, nach all dem, was man in den vergangenen Jahrzehnten verpasst hat. Heute suchen die Menschen wieder Arbeit im Ausland. Wir stel-len bei den meisten eine tiefe Verunsicherung fest: Sie haben Angst vor Arbeitslosigkeit oder fühlen sich in ihrem sozialen Umfeld unwohl.
H&K: Wann raten sie den Menschen davon ab, die Koffer zu packen?
Kunkel-Müller: Man sollte nicht auswandern, wenn man schon in der Heimat nicht klarkommt. Seine Probleme nimmt man mit – auf der anderen Seite des Berges ist das Gras eben nicht grüner. Auch wenn jemand die Fremdsprache nicht richtig spricht, rate ich ab. Außerdem: Sich aus Arbeitslosigkeit nach Übersee zu bewerben, hat keinen Sinn. Ein soziales Versorgungssystem von Arbeitslosen nach hiesigem Muster kennt man dort vielfach nicht. Man muss arbeiten, und wenn das bedeutet, anderen Leuten die Einkaufstaschen zum Auto zu tragen.
H&K: Wie steht es mit der Auswanderung in ein Land der Europäischen Union (EU)?
Kunkel-Müller: Da liegen die Hürden niedriger. Deutsche müssen innerhalb der EU nur einen bezahlten Arbeitsplatz finden, der die Kranken- und Rentenversicherung sichert. Das ist beinahe, als würde man von Hamburg nach München ziehen. Oft ist die Motivation, in einem Land zu leben, das man schon aus dem Urlaub kennt. Auch das gute Wetter ver-lockt. Bei Hamburgern steht zum Beispiel Spanien hoch im Kurs.
H&K: Wodurch zeichnet sich der ideale Auswanderer aus?
Kunkel-Müller: Seine Ausbildung muss stimmen, er muss sehr anpassungsfähig sein und eine große Arbeitsbereitschaft haben. Nach Übersee muss man Kapital mitbringen, gesund sein und ein Bewertungssystem nach Punkten bestehen, das den Kandidaten auf Herz und Nieren prüft. Die Klienten sollten sich über die Verhältnisse in der Ferne im Klaren sein: Wie sind dort die Arbeitszeiten, wie viel Urlaub habe ich, wie hoch sind die Lebenshaltungskosten, wie ist das Sozialsystem organisiert – gibt es überhaupt eines? Wir stellen oft fest, dass die Leute deutsche Verhältnisse ins Ausland übertragen, dabei werden wir hier in vielerlei Hinsicht noch immer weich gewickelt.
H&K: Warum kehren deutsche Auswanderer in ihre Heimat zurück?
Kunkel-Müller: Der Hauptgrund sind schwere Erkrankungen. In Über-see müssen Kranke oft ihr gesamtes Hab und Gut verkaufen, um Ärzte bezahlen zu können. So lange diese Leute einen deutschen Pass haben, werden sie hier meistens zu Sozialhilfeempfängern. Dann: die Trennung vom Partner oder gescheiterte Existenzgründungen. Ein neues Phänomen sind Rückkehrer, die einem Betrug aufgesessen sind: Immer öfter erscheinen heute Anzeigen im Internet, in denen Firmen gegen Geld Schein-Jobs vermitteln. Eine letzte Gruppe sind diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg ausgewandert sind und nun unter schwerem Heimweh leiden. Das überfällt manch alten Menschen wie Masern.
Interview: Annette Woywode
Helga Kunkel-Müller, 63, arbeitet seit 18 Jahren in der evangelischen Auslandsberatung für Auswanderer, Auslandstätige und Ausländer-Ehen e.V. (Ev.A.B.). Gegründet wurde die überregional arbeitende Beratungs-stelle im Jahr 1873 als evangelisch-lutherische Auswanderermission zu Hamburg. Der Grund waren Berichte von Geistlichen der Missouri-Synode aus den USA, denen immer wieder hilflose und unwissende Auswanderer begegneten.
Laut Statistischem Bundesamt gehen derzeit jährlich rund 130.000 Deutsche ins Ausland. Höchstens 20.000 davon sind allerdings Auswanderer im klassischen Sinne: Menschen, die alles verkaufen und mit Sack und Pack ins Ausland ziehen. Wie viele Rückkehrer es jährlich gibt, darüber liegen keine Statistiken vor. In der Ev.A.B. melden sich rund 30 Rückwanderer pro Jahr. Weitere Infos unter Telefon 24 48 36, Mo–Do 10–16 Uhr, oder im Internet unter www.ev-auslandsberatung.de