Ein Historiker wirbt für das Nichtstun
(aus Hinz&Kunzt 140/Oktober 2004)
Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, sagt die Bibel. Müßiggang ist aller Laster Anfang, sagt das Sprichwort. Es gibt kein Recht auf Faulheit, sagt Kanzler Gerhard Schröder. Mahnende Worte für ein arbeitsames Volk, dem Müßiggang verdächtig ist.
Da ist es schon eine kleine Provokation, wenn der Autor Wolfgang Schneider ein fleißiges Loblied aufs Faulsein anstimmt. Mit seiner „Enzyklopädie der Faulheit“ belegt der Historiker, dass Nichtstun in allen Epochen seine Fürsprecher hatte und als Quelle von Inspiration, Sinn und Glück gewürdigt wurde. Schneider gräbt die ehrenwerte Tradition des Müßiggangs wieder aus, die vom Tatendrang der arbeitenden Gesellschaft untergepflügt wurde.
Im antiken Griechenland zum Beispiel beschrieb Sokrates die Muße als „Schwester der Freiheit“. Aristoteles stellte fest: „Arbeit und Tugend schließen einander aus“ (weswegen die lästige Arbeit Sklaven, Frauen und Ausländern übertragen wurde). Vorbildlich lebte der griechische Held Diogenes, der angeblich in einem Fass dem reinen Müßiggang nachging. Als Alexander der Große ihn voller Mitleid nach seinen Wünschen fragte, soll Diogenes nur gesagt haben: „Geh mir aus der Sonne.“ Schneiders Erkenntnis: „Durch die griechische und römische Antike hindurch bis weit ins christliche Mittelalter hinein war die Faulheit kein Makel, sondern ein Privileg“, ein Lebensideal, bei dem die Arbeit nur im Wege stand.
Bis Luther kam. Und eine Entwicklung beförderte, die uns verrückt nach Arbeit macht. Das Leben wurde zur heiligen Pflicht, Müßiggang zur Sünde. Arbeit stieg in den folgenden Jahrhunderten zur zentralen Größe auf, im Kapitalismus wie im Sozialismus.
„Da ist was faul“, findet Schneider. Arbeit sei schließlich ein Lebens-Mittel, kein Lebens-Zweck. Um aber den eigenen Bedürfnissen jenseits der Arbeit auf die Spur zu kommen, braucht es – Muße. (Deshalb empfiehlt Schneider seinen Lesern auch schon auf Seite 19, erst mal eine Pause einzulegen.)
Die Enzyklopädie versammelt lobende Texte über die Faulheit von Lessing und Kierkegaard, von Hesse und Neruda. Oder auch die „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ von Heinrich Böll: Ein ärmlich gekleideter Fischer döst in der Sonne, ein Tourist spricht ihn an und entrollt vor ihm das Szenario einer großartigen wirtschaftlichen Zukunft – wenn der Fischer nicht nur einmal am Morgen, sondern mehrmals am Tag ausfahren würde. Er könnte sich ein neues Boot leisten, ein Kühlhaus und eine Räucherei bauen, ein Restaurant eröffnen. Um schließlich – Krönung des Erfolgs – beruhigt im Hafen in der Sonne zu sitzen. Worauf der Fischer sagt: „Aber das tu ich ja schon jetzt.“
Schneiders Resümee, entgegen dem Kanzler-Diktum: „Selbstverständlich gibt es ein Recht auf Faulheit.“ Vielleicht müssten wir uns sogar auf ein „Pflichtquantum an Müßiggang“ einrichten, da der Arbeitsgesellschaft ohnehin die bezahlte Arbeit ausgehe.
Den Autor, Jahrgang 1938, hat die Arbeit an der Enzyklopädie verändert. Er notierte in seinem Kalender: „Ich schreibe kein Buch mehr – der Weisheit höchster Schluss ist erreicht. Es gibt Wichtigeres, nämlich das, was geschrieben, ganz persönlich zu leben.“ Wolfgang Schneider hatte keine Zeit mehr, seine Weisheit zu genießen. Im April 2003, zwei Wochen, nachdem er das Manuskript beim Verlag abgegeben hatte, kam er bei einem Autounfall ums Leben.
Detlev Brockes
Buchtipp
Wolfgang Schneider, Enzyklopädie der Faulheit, Eichborn, 2003, 24,90 Euro.