Simone Buchholz lebt auf St. Pauli, dort, wo auch oft ihre Krimis spielen. Die Autorin zeigt uns ihren Stadtteil zwischen Hafenstraße und Schanzenviertel. Am Freitag liest sie zugunsten von Hinz&Kunzt in der St. Pauli Kirche und spricht mit Pastor Sieghard Wilm über das Leben im Stadtteil.
Simone Buchholz lädt in den Kandie Shop, wenn sie das St. Pauli zeigen will, das ihr am Herzen liegt. „Das ist hier alles so super selber gemacht“, sagt sie über den Laden und beißt genüsslich in ihr portugiesisches Gebäck. Das Café in der Wohlwillstraße ist mehr Wohnzimmer als Lokal und sieht einerseits aus, als wäre es noch nicht fertig eingerichtet, und andererseits doch so, als ob das schon alles so seine Richtigkeit hat.
Manchmal stolpert die Autorin morgens aus ihrer Altbauwohnung auf der anderen Straßenseite und kommt hierher, um an ihren Krimis zu arbeiten. Nicht unwahrscheinlich, dass ihr auf dem kurzen Weg ein halbes Dutzend Menschen ein freundliches „Hallo, Simone!“ entgegenruft: Man kennt sich hier im „Dorf St. Pauli“, wie die 47-Jährige es nennt. Und das meint sie ganz positiv: „Ein Dorf ist was Tolles, weil die Leute dort aufeinander aufpassen. Wenn du das in eine Großstadt setzt, die open-minded ist, dann wird ein Schuh draus.“
Benefizlesung für Hinz&Kunzt
Es dauert keine drei Minuten, und wir reden beim Kaffee über das, was hier im Viertel fast alle umtreibt: die explodierenden Mieten. Gerade erst hat Simone mit Kultursenator Carsten Brosda (SPD) und anderen Autorinnen und Autoren über den Kulturstandort Hamburg diskutiert. Ergebnis: „Du brauchst nicht über Literaturförderung reden, wenn die Leute nicht die Möglichkeit haben, hier zu wohnen“, berichtet sie. „Wenn die Stadt sie ausspuckt.“
„Wenn der Kapitalismus ins Spiel kommt, dann wird’s ein Problem.“– Simone Buchholz, Autorin
Simone zweifelt selbst, ob sie sich St. Pauli noch lange wird leisten können. Mal sehen, wie weit es die neue Hausverwaltung treibt. Paradox: Dass die früher ruhige Wohnstraße beliebter und damit letztlich teurer wurde, lag natürlich auch daran, dass Kulturschaffende wie Simone Buchholz hergezogen sind. Sie weiß das: „Dass ein Stadtteil sich verändert – jünger wird, bunter wird, lebendiger wird – finde ich alles total okay“, sagt sie. Aber wenn dadurch Menschen verdrängt werden, geht ihr das mächtig gegen den Strich. In ihren Worten: „Wenn der Kapitalismus ins Spiel kommt, dann wird’s ein Problem.“
„Sollen wir rumlaufen?“ Klar, dafür sind wir ja hier! Wir gehen die Wohlwillstraße ein Stück in Richtung Paulinenplatz, vorbei an kleinen Läden im Souterrain: der Plattenladen Back Records, daneben der Comicladen Strips & Stories. „Ein ganz wichtiger Laden für den Stadtteil“, sagt Simone im Vorbeigehen. Weil man dort bestellte Bücher schneller kriegt als bei Amazon – und natürlich, weil auch die Werke der Autorinnen aus der Nachbarschaft dort zu haben sind.
Unsere Blicke richten sich auf die Häuserwand auf der anderen Straßenseite. Simone erklärt, wieso die Häuser dort teilweise so schief sind. Abgesackt, weil die alten Pestgänge unter dem Stadtteil zusammengebrochen sind, durch die früher die Pestkranken vom Hafen zum Spital auf dem Heiligengeistfeld gebracht wurden. Das Gründerzeithaus an der Ecke zur Brigittenstraße mit seinen Stuckverzierungen über dem ersten Stock sticht durch seine ganz besondere Schieflage hervor: „Das ist geil, ne?“, findet Simone.
Wir machen kehrt und kommen am Art Store vorbei. „Ganz toller Ort!“, sagt Simone. „Wichtiger Ort!“ Als im vergangenen Jahr der Galeriebesitzer Karl plötzlich verstorben ist, sei die Trauer in der Straße groß gewesen. „Hier hingen Massen von Blumen“, erinnert sie sich. Inzwischen hat die Initiative Wohl oder Übel ein „Stadtteilwohnzimmer“ aus den Räumlichkeiten gemacht: In Karls Galerie finden nun Konzerte, Partys und Diskussionsrunden statt. Und alle kommen, auch die Kinder aus der Straße. „Das ist so St. Pauli für mich!“, schwärmt Simone. „Das kann ich mir so nirgendwo anders vorstellen.“ Also auch ein toller Schauplatz für eins ihrer Bücher, die ja zum Großteil auf St. Pauli spielen? „Ich verkaufe nicht die eigenen Wohnzimmer“, verneint Simone. Zu privat! „Ich nehme ja auch niemanden mit aufs Klo.“
„Ganz wichtige Orte“ gibt es für Simone Buchholz auf St. Pauli-Nord jede Menge. Sogar den örtlichen Budni oder den Edeka-Markt in der Paul-Roosen-Straße zählt sie dazu: „Du kannst hier nicht einfach nur einkaufen. Es ist ein totaler Schnack-Treff!“ Und erst der Gemüseladen auf der anderen Straßenseite neben dem kleinen Kunst Kiosk, in dem man immer ein passendes Geschenk findet. Klingt nach heiler Welt.
Die natürlich nicht heile ist. St. Pauli, das heißt auch Armut, Drogen, Obdachlosigkeit. Wer hier lebt, kann die Augen davor nicht verschließen. Auch die Kinder aus dem Stadtteil nicht: „Ich glaube, dass es sie letztlich zu weiseren Menschen macht, wenn sie hier aufwachsen“, sagt die Mutter eines Elfjährigen. „Mein Sohn weiß seit er drei oder vier ist, dass es Menschen gibt, die kein Zuhause haben, denen man was zu Essen kaufen muss.“ Und dann erzählt sie, wie sie fast vor Rührung weinen musste, als ihr Lütter einem Obdachlosen statt etwas zu essen Bargeld für ein Bier gegeben hat – „damit er alles aushalten kann“.
„Die Reeperbahn interessiert mich nicht. Alles zu gewollt.“– Simone Buchholz
Wir verlassen St. Pauli-Nord und überqueren die Reeperbahn – landläufig das Sinnbild für St. Pauli schlechthin. Nicht für Simone: „Die Reeperbahn interessiert mich nicht“, sagt sie knapp. Alles zu gewollt. Doch kaum sind wir auf der anderen Seite, gerät sie wieder ins Schwärmen. Diesmal über den Blick die Davidstraße hoch, an deren Ende die Hafenkräne in den trüben Himmel ragen. „Das hat was von San Francisco“, sagt sie. „Hier fühle ich mich immer wie Kojak.“
Neben der Davidwache reden wir über ihr Verhältnis zur Polizei. Simone hat vor allem mit den Experten vom Landeskriminalamt zu tun, wenn sie für ihre Bücher recherchiert – zum Beispiel über kriminelle Clans oder den zunehmenden Kokainkonsum in Hamburg. „Das sind immer Freaks, die sich mehr für die gesellschaftlichen Hintergründe als für die einzelne Tat interessieren“, sagt Simone. Freaks, weil sie sich über Jahre nur mit einem Thema beschäftigen und darüber richtig viel wissen. Und da wird’s dann interessant für die Autorin, die ihre Staatsanwältin Chastity Riley gerne in Abgründe blicken lässt. Oder, wie im aktuellen Buch „Hotel Cartagena“ (Suhrkamp Nova), aus dem 20. Stock des Empire Riverside Hotels auf den Hamburger Hafen – während sie als Geisel gehalten wird. Dabei ist die schnieke Bar eigentlich weder der richtige Ort für Simone noch für ihre Figur – beide ziehen Kiezkneipen vor.
Im echten Leben bleibt Simone lieber vor dem Hotel und schaut auf den Hafen. Auch so ein Sehnsuchtsort: „Wenn’s den Hafen nicht gäbe, gäbe es diese jahrhundertealte Gelassenheit im Umgang miteinander auf St. Pauli nicht“, glaubt sie. Deswegen kommt sie alle paar Tage an die Hafenkante und genießt den Weitblick.
Zu einem richtigen Hafen gehört natürlich eine Hafenkirche. Die von St. Pauli steht am Pinnasberg. „Ich bin niemand, der freiwillig in eine Kirche geht“, sagt Simone zwar. Aber diese hier hat es ihr trotzdem angetan: „Das ist ein Stadtteilzentrum, da kann jeder klingeln und kriegt von den Pastoren erst mal was zu trinken.“ Deswegen liest sie dort im Dezember aus ihrem neuen Buch – zugunsten von Hinz&Kunzt. Zu trinken gibt’s auch was – spätestens auf Simones Heimweg im Silbersack. Eine ihrer Lieblingskneipen, wegen der bunten Gästemischung: „Es sind alle da, das ist toll!“