Wie Armut Eltern und Kindern zusetzt – Spurensuche in einer Beratungsstelle und in einer Kita
(aus Hinz&Kunzt 171/Mai 2007)
Kindererziehung ist schon unter normalen Bedingungen schwierig. Aber bei Familien mit zu kleinen Wohnungen, wenig Geld und kaum Perspektiven sind Probleme meist programmiert. Ein Besuch in der Kita Scheplerstraße und in der Erziehungsberatungsstelle Virchowstraße.
Joanna Agyemang ist fertig mit den Nerven: Ihre zweieinhalbjährige Tochter Tiffany tanzt ihr auf der Nase herum. Nachts steht das Kind plötzlich auf und spielt. Besonders beliebt: Sie haut auf ihre Kindertrommel, bis die Nachbarn mit dem Besenstiel klopfen. In ihrer Kita Scheplerstraße bekommt sie den Rat, mal in die offene Sprechstunde von Hannes Classen zu gehen. Einmal im Monat kommt der Familientherapeut aus der Erziehungsberatungsstelle (EB) Altona in die Kita und berät Eltern in schwierigen Situationen.
Nur ein paar Sitzungen sind erforderlich, dann schläft Tiffany wieder durch: Alles Spielzeug wird abends aus dem Kinderzimmer entfernt; das Einschlafen wird eine regelmäßige Zeremonie, für die sich Joanna Agyemang Zeit nimmt. Auf den ersten Blick scheint es sich um ein ganz normales Erziehungsproblem zu handeln: Grenzen setzen. Auf den zweiten enthüllt es aber noch mehr: Wie Armut Eltern und Kinder unter Druck setzt.
„Ich mache eine Ausbildung und stehe wahnsinnig unter Zeitdruck“, sagt die 32-jährige Ghanaerin. Wecken, aufstehen, essen, schlafen, alles muss nach einem engen Zeitplan laufen. Wenn Tiffany keinen Hunger hat, obwohl das Essen fertig ist, und sich alles in die Länge zieht, gerät die Mutter unter Stress. „Ich muss doch arbeiten“, sagt die angehende Ernährungsberaterin. Einen Mann, der ihr helfen oder mit dem sie sprechen kann, hat die alleinerziehende Mutter nicht.
Immer öfter sind die Erziehungsberater mit Armut, Ausgrenzung und Fluchterlebnissen konfrontiert. Von den rund 600 Familien, die hier im Laufe eines Jahres beraten werden, sind mehr als die Hälfte alleinerziehend, jede Dritte ist eine Migrantenfamilie. Deshalb hat sich die Arbeit in der EB verändert. „Früher haben wir mehr Therapien angeboten, heute coachen wir vor allem die Eltern“, sagt Hannes Classen.
So wie bei der Familie Özdemir (Name geändert). Der Vater arbeitet hart und bis spätabends. Die Mutter kümmert sich um die drei Söhne (10, 6, 2 Jahre alt). Die Familie lebt in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Beide Eltern sind „ausgesprochen liebevoll und bemüht, die Kinder gut zu erziehen“, sagt Classen. Aber der Zehnjährige ist aggressiv, schlägt oft den jüngeren Bruder, der inzwischen verschüchtert ist. Der Vater versteht nicht, dass seine Frau die Sache nicht in den Griff bekommt: „Meine Mutter hatte neun Kinder und hat das geschafft, meine Frau hat nur drei…“
Ein typisches Beispiel, findet Hannes Classen, weil da viele Probleme armer Menschen zusammenkommen: Die Wohnung ist zu klein. „Hätten die Kinder mehr Platz, könnten sie sich mehr aus dem Weg gehen“, so Classen. Da die Mutter nicht berufstätig ist, haben die Kinder auch kein Anrecht auf Betreuung in der Kita. Die Familie ist relativ isoliert, hat niemanden, der abends einhütet und kein Geld, um mal einen Babysitter zu bestellen.
Trotzdem: Der Gang zur EB hat sich gelohnt. Den Eltern ist deutlich geworden, dass sie den Mittleren bevorzugen. Der Große bekommt eine Kinderkur verschrieben und Hausaufgabenhilfe.
Frau Özdemir ist nicht berufstätig. Der ganz Kleine ist unter drei Jahre alt, und die beiden Älteren sind Schulkinder. Deswegen hätte eigentlich keines der drei Kinder ein Anrecht auf eine Betreuung in der Kita, nicht mal halbtags. Aber aufgrund der häuslichen Situation hat jetzt der Mittlere einen Kita-Gutschein für einen Hortplatz bekommen.
Das Gutscheinsystem hat auch dazu geführt, dass die Kita Scheplerstraße geschrumpft ist. Von 170 Kinder auf 140. Aber das ist nicht das Hauptproblem: „Viele Kinder haben Probleme damit, zweisprachig aufzuwachsen“, sagt Anette Döhl – und meint damit Deutsch und Türkisch. „Da müssten wir die Kinder noch mehr fördern können.“
Manchmal schielt die Kita-Leiterin etwas sehnsüchtig hinüber ins betuchtere Ottensen oder nach Blankenese: Die können ganz andere Angebote machen. „In Blankenese soll in einer Kita jetzt eine Zweitsprache eingeführt werden – Englisch.“ Das zum Thema Chancengleichheit!
Immerhin wird die Kita Scheplerstraße jetzt zum Eltern-Kind-Zentrum.Das bedeutet: Die Kita öffnet an drei Tagen für vier Stunden ihre Türen, hauptsächlich für Eltern und Kinder ohne Gutschein. Angeboten werden sollen ein Mittagstisch, Eltern-Kind-Spielgruppen und offene Sprechstunden zu Erziehungsproblemen.
Für dieses Programm stehen eine halbe Erzieherinnenstelle zur Verfügung und acht Stunden pro Woche für einen Sozialpädagogen. „Es ist ein Anfang“, sagt Anette Döhl.
Sie ist sowieso ein optimistischer Typ. Gerade arbeitet die Kita daran, den Garten für die Kids zu verschönern. Die Kita hat deshalb zu Baum-Patenschaften aufgerufen. „Ich wusste erst gar nicht, ob das Sinn macht“, sagt Anette Döhl. „Schließlich haben die meisten Eltern wenig Geld.“ Inzwischen sind schon 475 Euro zusammengekommen. „Da haben Eltern 15 Euro gespendet, von denen ich weiß, dass sie kaum Geld haben“, sagt sie stolz und auch ein wenig gerührt.