Wieso glauben Menschen so gern Dinge, die nicht wahr sind? Wonach beurteilen wir überhaupt, was richtig und was falsch ist? Unser subjektives Weltbild spielt dabei eine große Rolle, sagt der Psychologe Thomas Brudermann.
Hinz&Kunzt: Herr Brudermann, Sie nennen in Ihrem Buch 25 gängige Ausreden für klimaschädliches Verhalten, etwa „Ich habe schon genug andere Sorgen“. Wir würden lügen und uns doch für ehrlich halten. Warum sollten wir uns so paradox benehmen?
Thomas Brudermann: Die meisten Menschen halten sich für umweltfreundlich. In dieses positive Selbstbild passt nicht hinein, dass wir uns auch umweltschädlich verhalten. Weil wir uns das nicht eingestehen wollen, müssen wir die Kluft auflösen. Wir könnten unsere Einstellung oder unser Verhalten ändern, aber das ist sehr schwierig. Da kommen dann diese Ausreden ins Spiel. Damit kann ich mir schönreden, dass ich mit dem Auto in den Supermarkt fahren muss, um zwei Flaschen Wasser zu transportieren.
Der Selbstbetrug lohnt sich also?
Genau, er dient dazu, dass wir uns morgens noch guten Gewissens im Spiegel anschauen können.
Wir überschätzen auch unseren eigenen Wissensstand, schreiben Sie, ein Phänomen namens „Overconfidence“. Fußballfans zu Hause auf der Couch wissen mehr als der Bundestrainer?
Absolut richtig. Ich selbst bekomme relativ viele Anrufe und E-Mails – bislang ausschließlich von Männern –, in denen mir erklärt wird, wo ich falschliege. Dabei ist Overconfidence, also Übervertrauen, evolutionär gesehen eine Stärke. Wir machen viele Dinge, weil wir übermäßig optimistisch sind, etwa Firmen gründen, obwohl wir wissen, wie viele davon schon im ersten Jahr pleitegehen. Übervertrauen führt aber auch dazu, dass wir uns sehr schwer damit tun, auch andere Perspektiven zu sehen.
Sie sagen, dass wir die Welt durch eine subjektive Brille betrachten, die auf unseren Erfahrungen, Prägungen und Weltbildern fußt. Informationen, die nicht in dieses Bild passen, würden abgelehnt oder umgedeutet. Können Fakten also nur bis zu einem bestimmten Grad unsere Entscheidungen beeinflussen?
Da kommen zwei Dinge zusammen: Overconfidence und der sogenannte Bestätigungsfehler. Was wir wahrnehmen, trifft ja nicht auf ein weißes Blatt Papier, sondern auf ein bestehendes, komplexes Bild. Neue Informationen müssen irgendwie dazu passen. Der energieeffiziente Weg für unser Gehirn ist es, neue Fakten so wahrzunehmen, dass sie zum bestehenden Weltbild passen. Fakten, die nicht dazu passen, ignorieren wir entweder oder wir deuten sie um. Ein Hitzesommer ist für jemanden, der nicht an den Klimawandel glaubt, einfach etwas Normales. Für Menschen, die sich sehr stark mit der Thematik beschäftigen, ist er ein weiteres Indiz dafür, dass wir auf eine Katastrophe zusteuern.
Glauben wir also nur das, was wir auch glauben wollen?
Das könnte man überspitzt so formulieren. Ob es ein Wollen ist …? Es ist einfach bequemer. Wenn wir jeden Tag aufs Neue unser Weltbild erschüttert sehen, funktionieren wir im Alltag nicht mehr.
In Ihrem Buch über Massenpsychologie schreiben Sie, dass Menschen sich eher an anderen Menschen als an
Fakten orientieren, wenn sie sich mit etwas nicht auskennen. Im Social-Media-Zeitalter scheint sich das zu
verstärken. Überrascht Sie das?
Nein, denn im Nachhinein hat man es im Vorhinein schon immer gewusst. Aber Spaß beiseite, für diese Massenphänomene braucht es immer zwei Faktoren: Das eine ist eine gewisse Unsicherheit. Und das zweite ist emotionale Erregung. Beides zusammen führt dazu, dass wir sehr anfällig werden für Suggestion durch andere. Das weiß man schon aus sozialpsychologischen Versuchen in den 1960er-Jahren. Wir sehen das oft bei gesellschaftlichen Entwicklungen, die Unsicherheit auslösen – so wie in der Pandemie oder beim Klimawandel. Dann nehmen wir sehr schnell Erklärungen an, auch einfache.
Lässt sich dadurch auch der Irrglaube erklären, dass Kondensstreifen in Wahrheit Chemtrails sind?
Bis zu einem gewissen Grad könnte man es damit erklären. Man darf ja nicht vergessen, dass ein großer Teil unseres sozialen Lebens heute online stattfindet. Wir sind in irgendwelchen Telegram-Gruppen und finden in diesen Echokammern immer wieder die gleichen Informationen. Wir umgeben uns mit Menschen, die unsere eigene Meinung immer wieder bestätigen. Unser Gehirn reagiert sehr positiv darauf, wenn andere uns Bestätigung geben. Das kann gewissermaßen süchtig machen. Es ist auf jeden Fall viel bequemer, als sich einer Gegenposition zu stellen. Man hat bei Messungen von Hirnströmen nachgewiesen, dass bei der Konfrontation mit einer Gegenposition Areale im Gehirn aktiviert werden, die eigentlich für die Schmerzverarbeitung zuständig sind. Fakten, die unser bestehendes Weltbild herausfordern, können sehr schmerzhaft sein.
Vielen Dank für das Gespräch!