Seit Jahren warnt Hinz&Kunzt, dass viele Obdachlose auf Hamburgs Straßen verelenden, weil sie nicht genügend Hilfe bekommen. Jetzt ist es amtlich: Viele Osteuropäer sind sogar zu krank, um abgeschoben zu werden.
Hamburg will hart durchgreifen, Obdachlose aus dem EU-Ausland sollen ausreisen. Seit März 2017 werden deshalb flächendeckend Obdachlose zum Vorsprechen bei der Ausländerbehörde aufgefordert, um ihr Recht auf Freizügigkeit zu überprüfen. Bis einschließlich November 2018 passierte das 922 Mal. Können die Obdachlosen nicht nachweisen, im weiteren Sinne am Arbeitsleben teilzunehmen oder über „ausreichende Existenzmittel“ zu verfügen, droht ihnen der Verlust des Freizügigkeitsrechts und damit der Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland.
In bislang 336 Fällen hat die Ausländerbehörde das Freizügigkeitsrecht aberkannt und forderte den oder die Obdachlose zur Ausreise auf. Und wer nicht freiwillig ausreisen will, dem droht die Abschiebung. Es dauert zwar einige Monate, bis Fristen verstreichen und die Behörde die Verfahren vorantreibt. Doch im Oktober 2017 wurde der erste Obdachlose aus Hamburg zwangsweise außer Landes gebracht. Bis einschließlich April 2018 waren es vier obdachlose Rumänen, drei Polen, zwei Bulgaren und ein Lette, die abgeschoben wurden. Entweder auf dem Landweg oder per Flugzeug.
Es mangelt an der „generellen Haft- und Verwahrfähigkeit“
Ab Mai 2018 schob die Ausländerbehörde plötzlich keine Obdachlosen mehr ab. Der Grund dafür war aber nicht etwa ein Paradigmenwechsel – die Obdachlosen waren schlicht zu krank und verelendet, um abgeschoben zu werden. „Es mangelt an der generellen Haft- und Verwahrfähigkeit“, sagt Behördensprecher Matthias Krumm zu Hinz&Kunzt. Medizinische und hygienische Voraussetzungen für eine Abschiebehaft seien nicht gegeben gewesen. Manche Obdachlose waren auch nicht reisefähig.
Wie viele genau das betraf, kann er nicht sagen. Aber bis einschließlich November fand keine Abschiebung von Obdachlosen aus Hamburg mehr statt. Zahlen für den Dezember liegen bislang nicht vor.
„Die Vertreibungspolitik macht die Menschen so krank, dass sie nicht einmal mehr abgeschoben werden können. Das ist doch absurd!“– Stephan Karrenbauer
Die Sozialbehörde weist auf Nachfrage auf ein Treffen zwischen Ausländer- und Sozialbehörde im vergangenen Dezember hin. Dort habe man sich zu den „gesundheitlichen Hindernissen“ der oft alkoholkranken Obdachlosen ausgetauscht, sagt ihr Sprecher Martin Helfrich gegenüber Hinz&Kunzt. Man überlege in der Behörde nun, wie man den Obdachlosen vor der Abschiebung eine angemessene Unterkunft im Heimatland organisieren könne. Auch gebe es einen Austausch mit der Gesundheitsbehörde über die Problematik. Konkrete Ergebnisse gebe es aber bislang nicht.
Seit Jahren weisen Wohlfahrtsverbände darauf hin, dass insbesondere osteuropäische Obdachlose immer mehr verelenden, weil sie in Hamburg kaum Chancen auf eine Unterkunft haben. „Die Vertreibungspolitik der Stadt Hamburg geht nicht auf“, sagt Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer. „Sie macht die Menschen so krank, dass sie nicht einmal mehr abgeschoben werden können. Das ist doch absurd!“ Dringender denn je müsse Hamburg endlich allen Menschen auf der Straße helfen und eine Unterkunft anbieten.
Linksfraktion kritisiert „systematische Überprüfungen“
Das Vorgehen der Ausländerbehörde war auch schon zuvor nicht ohne Kritik geblieben. Im Dezember 2017 beschäftigte sich auch der Innenausschuss der Bürgerschaft damit. Die Linksfraktion sprach von einer „sozialpolitischen Bankrotterklärung“. Innensenator Andy Grote (SPD) rechtfertigte damals die Überprüfungen der Obdachlosen: „Wir glauben, dass wir insgesamt einen ausgewogenen und angemessenen Umgang mit der Gruppe der osteuropäischen Obdachlosen finden.“
„Die Obdachlosen verlassen ihre Übernachtungsplätze und sind für Sozialarbeiter_innen nicht mehr erreichbar.“– Cansu Özdemir
Zuletzt griff die Linksfraktion das Thema wieder auf. Die Androhung von Abschiebungen führe dazu, dass die Obdachlosen „ihre gewohnten Übernachtungsplätze verlassen und für Sozialarbeiter_innen nicht mehr erreichbar sind“, kritisierte die Fraktionsvorsitzende Cansu Özdemir in einer Pressemitteilung im vergangenen Dezember. Mittlerweile scheine es „gängige Praxis“ zu sein, dass osteuropäische Obdachlose „systematisch“ überprüft würden.
Özdemirs Worte waren sorgsam gewählt, denn eine „systematische Überprüfung“ wäre der Behörde nicht erlaubt. Innensenator Grote räumte gegenüber Hinz&Kunzt 2017 zumindest ein, die Obdachlosen würden „systematischer als andere“ überprüft. Doch wo kein Kläger, da kein Richter: Die Überprüfungen gingen weiter. Die Ausländerbehörde hat von Januar bis November 2018 insgesamt 320 Obdachlose zur Vorsprache aufgefordert. Das sind zwar weniger als von März bis Dezember 2017, als 602 Obdachlose vorsprechen sollten. Dafür stieg die Zahl derer, denen die Freizügigkeit aberkannt wurde, von 117 im Jahr 2017 auf 219 in 2018 an.
Verelendete Obdachlose werden sich selbst überlassen
Sie alle gelten als „ausreisepflichtig“. Die Entscheidung, ob jemand in der Verfassung für eine Abschiebung ist, treffen dann Mitarbeiter des Referats für Rückreiseangelegenheiten der Ausländerbehörde. Sie suchen nach Darstellung von Behördensprecher Krumm die ausreisepflichtigen Obdachlosen auf ihren Schlafplätzen auf. Stellen die Behördenmitarbeiter dann fest, dass sie nicht haft-, verwahr- oder reisefähig sind, ziehen sie wieder von dannen. Einen Austausch etwa mit der Sozialbehörde über besonders verelendete oder kranke Obdachlose gibt es allerdings nach Auskunft der Ausländerbehörde nicht. Stattdessen werde abgewartet, ob sich ihr Zustand bessert, denn: „Es besteht weiterhin Ausreisepflicht.“