Bis die abgerissenen Esso-Häuser auf St. Pauli durch einen Neubau ersetzt sind, werden Jahre vergehen. Wer von den alten Mieter*innen wird von dem Rückkehrrecht dann noch Gebrauch machen?
„Hier stand der erste Bau so längs.“ Evi Madejski, 74, deutet aus ihrem elektrischen Rollstuhl über die mit Graffitis besprühte Pressspanwand, die die Brachfläche am Spielbudenplatz von der Kastanienallee trennt: „Da waren die Drei- und Vierzimmerwohnungen drin.“ Seit nunmehr sieben Jahren wartet das Grundstück, auf dem früher einmal die Esso-Häuser wie kein zweiter Ort für den Hamburger Kiez standen, auf seine Bebauung. Darauf, dass Evis altes Zuhause wieder zum Leben erwacht.
Im Jahr 2000 war Evi hier eingezogen, zunächst in eine Einzimmerwohnung, später, gemeinsam mit ihrem Enkel, in eine der Dreizimmerwohnungen. Wunderbar hell sei es gewesen. Morgens das Licht aus Richtung Operettenhaus, tagsüber vom Hafen. Von den Balkonen habe man alles überblicken können. „Ich vermiss meine Esso-Häuser schon sehr“, sagt die alte Dame. „Vor allem die Leute natürlich.“
In der Nacht auf den 15. Dezember 2013, im Keller spielten gerade „Muff Potter“ im Club Molotow, wurden die Häuser ohne Vorankündigung geräumt. Bewohner*innen bemerkten Erschütterungen und meldeten sich bei der Polizei. Vorausgegangen war ein Streit zwischen dem Immobiliengiganten Bayerische Hausbau, der die maroden Häuser vom Vorbesitzer gekauft hatte, der Stadt und den Mieter*innen. Die Konfliktlinien waren klar: Der neue Eigentümer wollte abreißen – die Mieter*innen, die sich zu einer Initiative zusammengeschlossen hatten, wollten das verhindern. Die behördlich angeordnete Räumung beendete die Auseinandersetzung. Die Abrissbagger schafften wenige Monate später nicht mehr umzukehrende Fakten.
Viele der damaligen Bewohner*innen haben vertraglich ein Rückkehrrecht in den Neubau zugesichert bekommen – ein Ergebnis der erbitterten Proteste gegen Räumung und Abriss. Welchen Wert hat dieses Recht heute? Hat sich der Protest für die einstigen Mieter*innen gelohnt? Künftig soll aus den Esso-Häusern ein „Paloma-Viertel“ werden. Kletterwand, Skatepark und Sozialwohnungen sind genauso Teil des ehrgeizigen Projekts wie ein Hotel und Restaurants. In die Entwürfe flossen Ideen der Mieterinitiative, des Stadtteils und des Bezirks ein, auch das ein Ergebnis des Protests. Doch der Neubau kann nicht mit dem Tempo, das beim Abriss vorgelegt wurde, mithalten. Stand heute sollen die ersten Mieter*innen 2025 einziehen: Für viele der einstigen Esso-Haus-Bewohner*innen ist das zu spät.
Evi Madejski, zum Beispiel, wird nicht mehr herziehen. Nach der Räumung war sie mithilfe der Bayerischen Hausbau zunächst in einer Ersatzwohnung im Karoviertel untergekommen. Der Stadtteil, obwohl nur wenige 100 Meter entfernt, war so gar nicht ihre Gegend – „diese ganzen hübschen Läden und diese komischen Leute“. Für Evi kein Vergleich zum schmuddeligen, aber lieb gewonnenen Rotlichtviertel. Nur die Hoffnung auf baldige Rückkehr machte ihr das Karoviertel erträglich. Hätte sie gewusst, wie lange das alles dauert, sie wäre direkt in die Seniorenwohnanlage gezogen, in der sie heute lebt. Nur einige Meter neben der Brachfläche, auf der einst ihre Esso-Häuser standen. „Bevor das alles fertig ist, lieg ich unter der Erde“, sagt Evi.
Auch Andreas Sidoropoulos musste seine Esso-Haus-Wohnung verlassen, der 58-Jährige nahm eine Ersatzwohnung in den Grindelhochhäusern an. Dort wohnt er noch. Manchmal vermisst er den Kiez, die Kneipen direkt vor der Haustür. Andreas hat mit einigen ehemaligen Nachbar*innen aus den Esso-Häusern noch Kontakt. Auch er hat ein Rückkehrrecht. Ob er es nutzen wird? „Wollen die überhaupt noch bauen?“, fragt Andreas zurück und lacht. „Allmählich verliert man das Interesse. Und das ist ja auch eine schöne Gegend hier.“
Julia Levin, die früher ebenfalls in den Esso-Häusern lebte, kennt solche Geschichten. „Dass viele der Mieter nicht zurückkommen, war eigentlich von vornherein klar“, sagt die 36-Jährige. Viele hätten sich in ihren Ersatzwohnungen längst gut eingerichtet; einige der Ex-Mieter*innen sind bereits gestorben. Selbst wenn alles nach Plan läuft, werden zwischen Auszug und Neubezug zwölf Jahre vergehen.
Auch Julias Freundin Aksana Smakova, wie sie ehemalige Esso-Bewohnerin, macht sich keine Illusionen. „Es wird nie mehr sein wie früher“, sagt Aksana. Darin weiß sie sich mit allen Ehemaligen einig. Eine Nachbarschaft auseinanderreißen und Jahre später wieder zusammenpuzzeln – das kann nicht klappen. Was weg ist, ist weg. „Aber so funktioniert das Leben auch nicht, das ist immer im Fluss“, sagt Aksana. „Es geht jetzt darum, in welche Richtung sich das alles weiterentwickeln wird.“
Aksana und Julia sind hoffnungsvoll. Immer noch. Zwar waren die jahrelangen Auseinandersetzungen auch für die Freundinnen zermürbend. Doch sie haben auch eine Perspektive: Das vertraglich zugesicherte Rückkehrrecht – für die beiden eine echte Option. Eine Projektgruppe ist bereits auf sie zugekommen, sie will genossenschaftliches Wohnen auf einem der Baufelder des künftigen Paloma-Viertels ermöglichen. „Ich glaube, dass da noch was ganz, ganz Tolles entstehen kann“, sagt Aksana. „Mit Werkstätten, sozialen Einrichtungen, Sportmöglichkeiten, Sozialwohnungen und dem Projekthaus. Die Frage ist nur: wann?“
Mit Sicherheit beantworten kann die Frage gerade niemand. Bislang wurde nicht einmal mit dem Bau begonnen. Die Bayerische Hausbau erklärt auf Nachfrage, dass sie noch auf das Baurecht warte. Man rechne damit, dass es noch in diesem Jahr so weit ist und die ersten Mieter*innen 2025 einziehen können. Im zuständigen Bezirksamt Mitte will man sich noch nicht auf einen konkreten Zeitpunkt für grünes Licht festlegen. Baurechtliche Fragen, etwa die nach der brandschutzgerechten Ausführung der geplanten Kletterwandelemente, müssten geklärt, städtebauliche Verträge festgezurrt werden. Allerdings: Bei allen Beteiligten bestehe ein großes Interesse, so zügig wie möglich loszulegen.
Auch der Musikclub Molotow hat ein Rückkehrrecht
Dieses Interesse hat auch Andi Schmidt, Besitzer des legendären Molotows. Auch er darf mit seinem Club ins neue Paloma-Viertel zurückkommen. Wie er sich die Miete leisten sollte, war lange völlig unklar. Astronomisch sollte die sein im Vergleich zum Vertrag in den alten Esso-Häusern. Nun ist die Stadt eingesprungen und beteiligt sich mit 1,9 Millionen Euro an den Baukosten des künftigen Clubs. Schmidt hat so die Sicherheit, die nächsten 25 Jahre die Miete zahlen zu können. „Damit ist für uns klar: Je schneller wir wieder zurückkönnen, desto lieber“, erklärt er an der Theke seines Exils an der Reeperbahn. Das versprüht mit seinen schwarz-roten Vorhängen und Tourplakaten von Mumford & Sons oder den Black Keys durchaus einiges vom alten Charme.
Der Clubbesitzer ist sich sicher: Sowohl die gute Zwischenlösung als auch die Perspektiven für die Zukunft sind Folgen des Protests. „Ohne den Widerstand, der sich in den Esso-Häusern und im Stadtteil formiert hat, wäre da einfach irgend so ein Ding entstanden“, sagt Andi Schmidt, „funktional, hässlich, profitabel. Ich bin sehr froh, dass es das nun nicht wird.“
Auch wenn sie selbst nicht mehr vom Ergebnis profitieren wird, ist auch Seniorin Evi stolz: auf den Protest von damals und den daraus resultierten Beteiligungsprozess am Neubau. „Versuch macht klug“, sagt sie und lächelt. „Und vielleicht, das muss ich auch sagen, wären wir ohne den Protest untergegangen und hätten nicht so viel Unterstützung gehabt. Auch mit den neuen Wohnungen.“
Obwohl der lieb gewonnene Tankstellenshop oder die kleinen Kneipen nie zurückkommen werden, freut sich Evi, wenn Läden wie das Molotow wieder in den Neubau einziehen und einen Gegenentwurf zu den ganzen Glaskästen bieten, die ihr Viertel immer stärker dominieren. Auch wenn niemand dem Stadtteil sein altes Herz wieder einpflanzen kann.