Conny Drese :
„Es herrschte reine Anarchie“

Als im November 1989 in Berlin die Mauer fiel, kam die Sängerin Conny Drese aus Dresden zum ersten Mal nach Hamburg – und lernte unsere heutige Hinz&Kunzt-Chefredakteurin Birgit Müller kennen. Nun haben die beiden sich wieder getroffen und über „damals“ gesprochen.

(aus Hinz&Kunzt 261/November 2014)

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Conny Drese vor dem Operettenhaus am Spielbudenplatz. Immer war es ihr Traum gewesen, mal Musicals zu singen. Nach der Grenzöffnung bekam sie die Hauptrolle im Musical „Cats“.

November 1989. Mauerfall – und wildfremde Menschen liegen sich in den Armen. Ich war damals Reporterin beim Hamburger Abendblatt und genoss die Zeit. Die meisten spürten: Wir erleben einen historischen Moment. Journalistin in dieser Zeit zu sein und alles hautnah mitzuerleben, empfand ich als großes Privileg.

Jeden Tag machten wir neue Erfahrungen, lernten eine komplett fremde Welt kennen – und Menschen, die mir bis heute etwas bedeuten. Wie Conny aus Dresden. 25 Jahre später treffen wir uns wieder, hier in Hamburg vor dem Operettenhaus, wo sie ihre Karriere als Musicalstar startete. Und wir haben uns wieder so viel zu erzählen, wie damals …  Aber der Reihe nach.

Wir in Hamburg hatten unsere eigene Grenzöffnung, spätestens, als am 24. November 1989 der erste Sonderzug aus Dresden nach Hamburg kam, mit 920 Menschen an Bord. Wir, eine ganze Crew vom Abendblatt, waren in Büchen zugestiegen und wollten erleben, wie die Stimmung war. Die Erste, die ich kennenlernte, war Conny Drese. Sie war 33 Jahre alt, genauso alt wie ich damals, und Sängerin.

Manchmal sang Conny an der Dresdner Staatsoperette. Sie war mit einer ganzen Gruppe von Kollegen im Zug. Von der Garderobiere bis zum Sänger. Der Sänger hieß Steffen Friedrich und war ihr Lebensgefährte.

Die Zug-Passagiere sollten in Hamburg auf einzelne Familien verteilt werden. Die Städtepartnerschaft, die 1987 zwischen Hamburg und Dresden geschlossen worden war, sollte endlich gelebt werden. Conny und ich verstanden uns auf Anhieb gut. Schnell war klar: Conny und Steffen würden in meiner Familie wohnen.

Wir redeten pausenlos, waren so neugierig auf das Leben der Anderen. Conny träumte davon, eine Musicalschule in Dresden aufzumachen. Aber Musical – das galt als westlich und dekadent. Wegen ihrer musicalhaften Interpretationen bekam Conny auch weniger Engagements. Ein paar Monate vorher, im Sommer 1989, als viele DDR-Bürger schon über Ungarn in den Westen „rübermachten“, hatten Conny und Steffen ganz brav einen Antrag beim Kulturministerium in Berlin gestellt: Sie würden gerne einen Abend in den Westteil fahren, um sich dort ein Musical anzusehen. Und natürlich zurückkommen. Der Antrag wurde abgelehnt. Steffen erzählte damals bei uns in der Wohnküche, wie er ausgeflippt sei: „Hallo! Andere hauen ab – das könnten wir doch auch, aber wir wollen doch gar nicht weg! Wir wollen nur einen Abend lang ein Musical anschauen!“

Es half nichts. Das Ministerium misstraute seinen Bürgern im Allgemeinen und Steffen im Besonderen. Dass Steffen direkt unter Beobachtung stand, haben die beiden erst erfahren, als sie vor ein paar Jahren Einsicht in ihre Stasiakten erhielten. „Dabei wollten wir nur Dinge verändern, erneuern“, sagt Conny heute. Sogar ein Konzept hatten die Künstler eingereicht. Aber das wurde von den Behörden nicht als besonderes Engagement angesehen, sondern als Aufmüpfigkeit.

Dabei war schon seit Jahren klar, dass die Menschen unzufrieden waren. „Ich fuhr oft mit dem Zug und auf den Reisen schnappte ich einiges auf“, sagt sie. Es sei gar nicht nur um Materielles gegangen, sondern im Wesentlichen darum, zu reisen, um mehr mitzubestimmen, um mehr Freiheit eben.

Dass es aber einmal so weit kommen würde, dass die DDR aufgelöst werden würde, daran hatte sie nie gedacht, es sich nicht einmal gewünscht.

Natürlich redeten wir damals vor 25 Jahren nicht nur. Wir wollten den Dresdnern alles zeigen: Elbe, Alster, Michel und Blankenese – aber irgendwann druckste Conny etwas herum. Eigentlich hatte sie nur einen Traum: „Cats“ im Operettenhaus zu sehen. Übers Abendblatt bekamen wir noch Tickets für die beiden. Auf diesen Moment hatte Conny quasi ihr ganzes Musikerinnenleben lang gewartet. „Die Noten, die Lieder, ich konnte alles auswendig. Und dann war ich so aufgeregt, aber gleichzeitig so erschöpft, dass ich zuerst einschlief“, sagt sie lachend. „Aber ich war begeistert.“

Conny und Steffen reisten zurück in ihre zerbrechende alte Welt. Anfang Dezember fuhren sie mit insgesamt 2000 Künstlern zur Kulturkonferenz nach Ostberlin in den Friedrichstadt-Palast. Diskutiert wurde, wie es weitergehen sollte. Mittenrein, so erinnert sich Conny, platzte die Nachricht, dass sich Alexander Schalk-Golodkowski, führender SED-Wirtschaftsfunktionär, der 1983 mit Franz Josef Strauß einen Milliardenkredit an die DDR eingefädelt hatte, Hals über Kopf nach Westberlin abgesetzt hatte. „Wir haben entschieden, eine spontane Demo zu machen, haben Plakate gemalt und sind losgezogen zum Staatsratsgebäude“, erzählt Conny. Und dann verschwimmen die Erinnerungen etwas. „Wenn mich nicht alles täuscht, ist am selben Tag Honecker zurückgetreten.“ Das war aber schon im Oktober. „Und dann kam ja der Dingens …“ Uns fällt beiden erst der Name nicht mehr ein. 25 Jahre, das ist eben eine verdammt lange Zeit. „Ach ja, der Krenz“, sagt Conny. Egon Krenz – für sechs Wochen neuer Staatsratsvorsitzender der DDR, um zu retten, was nicht mehr zu retten war.

Mitte Dezember 1989 fuhr ein Sonderzug in die umgekehrte Richtung: von Hamburg nach Dresden. Und unsere Crew vom Abendblatt war wieder dabei. Diesmal war ich zu Gast bei Conny und Steffen, die damals eine unglaublich gemütliche, aber klitzekleine Wohnung hatten. Beide waren geschieden, sie waren froh, sich ein neues gemeinsames Nest bauen zu können. Mit den Wohnungen, das war ja in der DDR schwierig. Jetzt machten Conny und Steffen den Stadtführer. Ich war zum ersten Mal in Dresden. Die Stadt war unglaublich schön – mit den Elbwiesen und dem Zwinger, aber alles war so grau, vieles verfallen. Steffen und Conny standen über diesen Dingen.

Gemeckert haben sie über die kulturelle Enge, aber nicht darüber, dass es durchaus Engpässe gab bei Lebensmitteln, Shampoo oder Elektroartikeln, die man bei uns einfach kaufen konnte. Erst in den Wochen des Mauerfalls lernte ich das aus eigener Anschauung kennen: Schlangestehen vor einem Laden. Als ich die Leute fragte, was es denn gäbe, zuckten sie die Achseln und lachten. Es werde schon was dabei sein, was man gebrauchen könnte.

Beim Abschied versprachen wir uns, dass wir uns bald wiedersehen würden. Aber dass dieser Wunsch schon bald in Erfüllung gehen würde, anders, als wir das jetzt dachten, ahnten wir nicht. Conny und Steffen erzählten noch, dass sie nach Wien reisen würden. „Zum Vorsingen für ‚Cats‘“, sagte Conny damals und lachte, „spaßeshalber“. „Null Chancen“ rechneten sich die beiden aus. Aber versuchen wollten sie es wenigstens. Doch beim Vorsingen wurden sie vom Fleck weg engagiert. Conny bekam die Hauptrolle, die Grizabella. Und Steffen wurde die Zweitbesetzung für den Katzengott. Einsatzort: Hamburg. Dabei hatten Conny und Steffen eigentlich nie vorgehabt, in den Westen „rüberzumachen“.

Im Februar 1990, keine drei Monate nach unserer ersten Begegnung, zog Conny nach Hamburg. Und das, obwohl sie gerade erstmalig bei der Staatsoperette in Dresden einen festen Vertrag bekommen hatte. Allerdings nur, „weil so viele abgehauen waren“, sagt sie jetzt, und mir fällt auf, dass sie das damalige Allerweltswort „rübermachen“ nicht mehr gebraucht. Conny bat um Auflösung ihres Vertrages. Was nicht unbedingt jeder machte: „Viele sind einfach abgehauen, es herrschte die reine Anarchie.“ Im gegenseitigen Einverständnis trennte man sich. Steffen entließen sie nicht so schnell aus dem Vertrag, er zog erst im Juni hinterher. Einfach abhauen, das wollte er nicht.

In diesen Monaten war unser Abendblatt-Team viel „im Osten“ unterwegs. Und nicht nur wir reisten: Versicherungsvertreter, Autohändler, Finanzberater tummelten sich in den neuen Bundesländern und versuchten, mit den „Ossis“ ihr Glück zu machen, oft auf deren Kosten. Es herrschte Goldgräberstimmung. Es ging alles rasend schnell weiter. Wiedervereinigung schon nach einem Jahr.

Zuvor, am 30. Juni 1990, wird die Ostmark abgeschafft. Damals traf ich in Dresden auch Kiki, die an der Staatsoperette an der Kasse gearbeitet hatte und jetzt, mit der neuen Freiheit, endlich ihren Traumberuf lernen wollte: Erzieherin. Wir gingen in die Neustadt, ein Wohnviertel vergleichbar mit dem früheren Schanzenviertel: Es herrschte Aufbruch- und Umbruchstimmung, kleine Wohnzimmer-Kneipen waren aus dem Boden geschossen, überall wurde diskutiert und kritisch hinterfragt.

Ich erlebte eine Demonstration: Die Ostmark wurde in einem Sarg zu Grabe getragen. Das mit der neuen Währung, der D-Mark, ging den meisten, die ich kennenlernte, viel zu schnell. Nur ein halbes Jahr war seit dem Mauerfall vergangen.

Conny und Steffen haben sich in Hamburg schnell eingelebt. Connys Sohn Martin aus erster Ehe kam nach, Connys Mutter ebenfalls, damit Martin gut versorgt war.

Im August 1991 heiraten Conny und Steffen. Mein Mann und ich sind Trauzeugen. Natürlich sind auch Abendblatt-Kollegen da. Wir wollen den beiden eine Freude machen und bringen eine ganze Seite über das Paar: „Auf leisen Pfoten ins Standesamt.“ Danach gehen wir in kleiner Runde zu einem Spanier an der Ecke. Was die beiden „Cats“-Darsteller uns damals nicht erzählten, sagt mir Conny jetzt nach 25 Jahren: „Wir haben eine Abmahnung bekommen, weil wir geheiratet haben, obwohl wir krankgeschrieben waren“, sagt sie. Heute kann sie darüber lachen.

Die Hamburger Zeit geht 2001 für die beiden zu Ende. Beide waren schon lange weg von „Cats“, hatten überall in Deutschland irgendwelche Engagements. Aber sie wollten noch so lange in Hamburg bleiben, bis Martin groß genug war, um allein klarzukommen. Denn Martin wollte unbedingt in Hamburg bleiben. „Wir fuhren mit unserem Umzugswagen am Operettenhaus vorbei – und zufällig war das auch der letzte Tag, an dem ‚Cats‘ aufgeführt wurde“, sagt Conny. Ein merkwürdiges Gefühl sei das gewesen.

Aber es sollte noch einige Stationen und Jahre dauern, bis Conny und Steffen da gelandet waren, wo sie wirklich hinwollten: in Dresden. 2008 hat Conny endlich ihren Traum verwirklicht: Sie eröffnete „Oh-Töne“, ihre eigene Musicalschule (www.musicalchor-dresden.de). Doch mit offenen Armen wurde sie in Dresden nicht gerade aufgenommen, sagt sie. „Ich hatte schon das Gefühl, dass man uns als Verräter ansieht; uns, die wir damals in den Westen abgehauen sind.“

Erst langsam hat sie wieder Fuß gefasst. „Ich musste bei null anfangen.“ Aber die Mühe hat sich gelohnt. Unter anderem hat sie einen Jugendchor aufgebaut. Und der ist jetzt angedockt an den Ort, an dem alles begann: an der Dresdner Staatsoperette. „Ich glaube, die Leute haben jetzt gemerkt: ‚Die Drese kann doch singen.‘“

Text: Birgit Müller
Foto: Dmitrij Leltschuk