Soziologin über Schlaf

„Es braucht nicht die 4000-Euro-Matratze“

Warum es sich lohnt, den Schlaf zu erforschen und welche Auswirkung soziale Faktoren auf die Nachtruhe haben, erklärt Soziologin Svenja Reinhardt im Interview.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Hinz&Kunzt: Ich wache oft vor dem Wecker auf und fühle mich meist ausgeschlafen. Bedeutet das, dass ich gut schlafe?

Svenja Reinhardt: Das ist schwer zu sagen, weil das Empfinden dafür sehr individuell ist. Wenn Sie sich aus­geschlafen fühlen, ist das zumindest ein gutes Zeichen. Viele Menschen meinen, ihre Nacht war gut, wenn sie durchgeschlafen haben oder wenn sie langsam wach werden konnten und der Wecker sie nicht aus dem Schlaf gerissen hat. Klar ist, dass gesellschaftliche Normen bei der Bewertung des eigenen Schlafs eine Rolle spielen. Der Acht-Stunden-Schlaf zum Beispiel ist so eine Norm, die heute allgemein verbreitet ist, obwohl sie biologisch nicht abschließend begründbar ist.

In vergangenen Jahrhunderten sind Menschen mitten in der Nacht auf­gestanden und waren einige Stunden wach, bevor sie sich erneut schlafen legten. Warum war das so, und warum machen wir es heute anders?

Es ist normal, dass wir mehrfach in der Nacht aufwachen. Evolutions­biolog:innen erklären das damit, dass die Urmenschen sich vor Gefahren schützen mussten. In der Zeit vor der Industrialisierung war ein so­genannter Zwei-Phasen-Schlaf in unserem Kulturraum verbreitet. In den Stunden dazwischen machten die Menschen etwa das Feuer an, aßen gemeinsam oder besuchten Nach­bar:innen. Fabrikarbeit und Verstädterung sollen dann dazu geführt haben, dass die Zeit, Notwendigkeiten und Gelegenheiten dafür verloren gingen. Obwohl die meisten von uns heute in einem Stück schlafen, wird inzwischen davon ausgegangen, dass nicht das entscheidend ist, sondern die ausreichende Menge Schlaf.

Die Schlafforschung ist eine vergleichsweise junge Disziplin.

Genau, erst seit den 1980er-Jahren hat sie sich in Deutschland verbreitet. Das mag verschiedene Ursachen haben, aber vor allem brauchte es ja erst mal Möglichkeiten, den Schlaf zu erforschen. Zum Beispiel das EEG (Elektroenzephalogramm, Red.), mit dem seit den 1920er-Jahren Gehirnaktivitäten gemessen werden können. Später haben es Computer und andere technische Entwicklungen möglich gemacht, ganze Nächte zu dokumentieren und auszuwerten. Das war neben den Forschungen zur Erkrankung Schlafapnoe ausschlaggebend dafür, dass die Schlafmedizin bedeutsamer wurde.

Zum Nutzen der Menschen: Heute kann ich mich ins Schlaflabor überweisen lassen, wenn ich etwa fürchte, an wiederkehrenden Atemaussetzern zu leiden.

Wie viele Menschen die Schlafapnoe genau betrifft, ist aufgrund der hohen Dunkelziffer schwer zu sagen. Schätzungen gehen etwa von 30 Prozent der Bevölkerung aus. Und die Folgen einer nicht behandelten Schlafapnoe sind mitunter schwerwiegend: Es kann zu Schlaflosigkeit, Müdigkeitsgefühl, Kopfschmerzen, Persönlichkeitsveränderungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Schlaganfällen kommen.

Welche Erkenntnisse der Schlaf­forschung haben Sie bislang am meisten überrascht?

Dass es völlig normal ist, nicht durchzuschlafen. Jeder Mensch wacht 25- bis 30-Mal pro Nacht etwas länger auf. Wir merken das aber meist nicht.

Und welche Fragen sind unbeantwortet?

Es gibt noch viele Forschungslücken. So ist etwa die Bedeutung der verschiedenen Schlafphasen noch lange nicht erklärt, auch ihre Zahl beziehungsweise die Logik der Aufteilung wird diskutiert. Früher ging man von drei solcher Phasen aus, später von vier, teils auch von fünf. Aktuell arbeitet die Schlafmedizin wieder mit vier Phasen: Einschlafphase, leichter Schlaf, Tiefschlaf und REM-Schlaf. Übrigens: Auch wenn landläufig die REM-Phase als Traumphase bezeichnet wird, bedeutet das nicht, dass wir in den anderen nicht auch träumen können.

Werbung und auch Medien vermitteln uns den Eindruck, wir könnten oder müssten unseren Schlaf optimieren. Muss ich mich damit beschäftigen?

Eine Überfokussierung ist sicherlich nicht hilfreich: Wie will man gut einschlafen, wenn man zu sehr darüber nachdenkt? Es ist wichtig, dass wir genug schlafen. Für die einen sind das nur vier Stunden pro Tag, für den anderen hingegen zwölf. Eine Profisportlerin in ihren 30ern braucht mehr Schlaf als ein Mann im selben Alter, der sich weniger bewegt. Und ein Neugeborenes schläft auch mal 16 oder 18 Stunden am Tag.

Wie Wissen über Schlaf entsteht

„Schlafwissen“ ist der Titel eines aktuellen Forschungs­projekts von Soziolog:innen und Historiker:innen der Universitäten Gießen, Marburg und Koblenz, zu denen Svenja Reinhardt gehört. Dabei soll in Zusammenarbeit mit drei Schlaflaboren die Frage beantwortet werden, wie Wissen über Schlaf in der Gesellschaft entsteht, sich verändert und weitergegeben wird.
Mehr Infos zu dem Projekt unter: www.schlafwissen.net

Gibt es Kulturen, die anders schlafen als wir?

Ja, es gibt viele kulturelle Unterschiede. Die südeuropäische Siesta ist ja recht bekannt. In Japan gibt es den Inemuri, einen Schlaf in der Öffentlichkeit, am Arbeitsplatz oder in der U-Bahn etwa, der gesellschaftlich anerkannt und akzeptiert wird, mit dem Gedanken: Dieser Mensch braucht jetzt Schlaf, weil er so viel gearbeitet hat.

Schlafen reiche Menschen besser als solche mit wenig Geld?

So allgemein gilt das nicht. Die tatsächliche Ausgestaltung des Tages scheint hier mehr Einfluss zu haben. So haben es Menschen leichter, für ihren guten Schlaf zu sorgen, wenn sie nicht in Wechselschichten arbeiten müssen. Auch äußere Faktoren wie Lärmbelästigung durch eine laute Straße oder ein hoher Stresspegel können zu schlechtem Schlaf führen. Andererseits: Es braucht nicht die 4000-Euro-Matratze und auch nicht das perfekte Kopfkissen. Einfaches Beispiel: Menschen in Japan schlafen oft auf einem dünnen Futon – und nicht schlechter als wir.

Mit all dem Wissen, das Sie sich erarbeitet haben: Haben Sie Ihren Schlaf verändert?

Ich bin entspannter geworden: Wenn ich nachts mal eine Zeit lang wachliege, ist das kein Problem mehr für mich. Und ich versuche, ausreichend zu schlafen, weil ich weiß, wie wichtig das ist.

Artikel aus der Ausgabe:

Gut geschlafen?

Wie schlecht Obdachlose schlafen – und was das für ihre Gesundheit bedeutet. Wieso es im Stadtteil Niendorf Widerstand gegen neue Hilfseinrichtungen gibt. Außerdem: Besuch im Zusatzstoffmuseum und Interview mit Kettcar-Bassist Reimer Burstorff.

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Autor:in
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas schreibt seit vielen Jahren für Hinz&Kunzt - seit 2022 als angestellter Redakteur.

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