Wenn nach 30 Jahren die Intendantin des Ernst-Deutsch-Theaters in den Ruhestand geht und an ihren Sohn und eine Kollegin übergibt – was macht das mit dem Theater? Isabella Vértes-Schütter, Daniel Schütter und Ayla Yeginer über den Generationenwechsel.
Nach 30 Jahren an der Spitze des Ernst Deutsch Theaters beginnt für Isabella Vértes-Schütter die letzte Spielzeit als Leiterin des Hauses, das sie einst von ihrem verstorbenen Mann übernahm. Im kommenden Jahr übergibt sie an ihren Sohn Daniel Schütter und Regisseurin Ayla Yeginer. Mit Hinz&Kunzt sprechen die drei über den Generationenwechsel und gesellschaftliche Teilhabe am Theater.
Hinz&Kunzt: Frau Vértes-Schütter, die kommende Spielzeit wird Ihre letzte am Ernst Deutsch Theater. Mit was für einem Programm verabschieden Sie sich?
Isabella Vértes-Schütter: Das Motto der Spielzeit ist „Lichtblicke“, und das ist auch das, was wir transportieren möchten. Wir wollen in diesen schwierigen Zeiten Stellung nehmen zu den Themen, die uns gesellschaftlich bewegen, und dabei Welten erschaffen, die Lichtblicke geben können und Hoffnung und Freude bieten. Nicht im Sinne eines Eskapismus, sondern indem wir Narrative finden, wie wir trotz gesellschaftlicher Krisen gemeinsam in eine bessere Zukunft gehen können.
Herr Schütter, können Sie mit diesem Ansatz etwas anfangen oder haben Sie andere Pläne, was den Umgang mit aktuellen Krisen angeht?
Daniel Schütter: Ich finde, dass das ein richtiger Ansatz ist. Weil es darum geht, die Situationen, die uns umgeben, einzuordnen und auf die Suche nach der persönlichen Verantwortung zu gehen. Ich glaube, so schafft man Lichtblicke: indem man nicht wegguckt, sondern indem man einen Umgang damit finden lernt. Insofern freue ich mich auf die neue Spielzeit und stehe da voll und ganz hinter Isabella.
Die neue Saison startet mit Ihrem Beitrag zur „odyssee.hamburg“, einer Kooperation zwischen dem Ernst Deutsch Theater, dem Ohnsorg Theater und dem Lichthof Theater. Wie kam es dazu?
Daniel Schütter: Ich finde, als Theater in dieser Stadt sind wir Kulturschaffende, die Gutes für die Gesellschaft und natürlich auch gute Unterhaltung wollen. Da gegeneinander zu arbeiten, finde ich total kontraproduktiv. Und als ich dann zum ersten Mal am Ohnsorg Theater spielte und auf Murat Yeginer (bis Mai 2023 Oberspielleiter am Ohnsorg Theater, Anm. der Red.) traf, gingen diese Gedanken los: Wie kann man sich eigentlich als Theater mehr solidarisieren? So kamen wir zu dem Projekt „odyssee“, um zu gucken, wie würden eigentlich unterschiedliche Häuser mit ein und demselben Stoff umgehen. Dabei entstanden vielseitige Möglichkeiten, miteinander zu arbeiten, zum Beispiel nachhaltige Bühnenbild-Konzepte. Man muss nicht alles immer neu produzieren, die Bühnenbilder werden weiterverwertet von Haus zu Haus, und so kann man weniger Müll erzeugen und auch an anderer Stelle Produktionskosten sparen. Und das ist natürlich gleichzeitig auch ein Probelauf: Wie kann das in der Zukunft weitergehen? Und wie können wir alle durch Austausch mehr miteinander gewinnen?
Frau Yeginer, wie bereiten Sie sich auf die kommende Zusammenarbeit am Ernst Deutsch Theater vor?
Ayla Yeginer: Ich arbeite mich gerade rein und muss das Haus ja auch kennenlernen. Wir denken schon gemeinsam darüber nach, wie die zukünftige Ausrichtung sein soll, strukturell und künstlerisch. Aber was die kommende Spielzeit angeht, bin ich „nur“ wohlwollende Beobachterin und Lernerin, da ich noch nicht zum offiziellen Team gehöre.
„Ich erlebe einen neuen Blick auf das eigene Haus.“
Isabella Vértes-Schütter
Isabella Vértes-Schütter: Das fühlt sich für mich anders an, für mich gehörst du schon zum Team dazu! Wir sind ja gerade in einem Change-Prozess, den wir gemeinsam gestalten und bei dem wir auch Unterstützung von außen haben durch eine Coachin, da bin ich gerade auch „Lernende“. Und von Ayla und Daniel kommen ganz viele Impulse und Gedanken, auf die ich nicht gekommen wäre. Das ist spannend, so einen ganz neuen Blick auf das eigene Haus zu erleben.
Wie kam denn die Idee zur Doppelspitze?
Daniel Schütter: Das hat mehrere Gründe. Zum einen glaube ich, wenn man so eine Position alleine bekleidet, ist es schwierig, sich dabei seine künstlerische Ader zu erhalten. Als Doppelspitze hat man eher die Möglichkeit, selber kreativ weiterzuarbeiten. Zum anderen finde ich, dass die Zeit von Männern alleine in Führungspositionen im Kulturbetrieb vorbei sein sollte. So wie wir versuchen wollen, als Theater die Gesellschaft mitzudenken, sollte auch die Leitung größtmöglich abdecken, wie unsere Gesellschaft aussieht.
Für Sie, Frau Yeginer, kommt dazu, dass Sie in eine Art „Familiendynastie“ mit einsteigen. Wie fühlt sich das an?
Ayla Yeginer: Natürlich habe ich mir anfangs Gedanken darüber gemacht. Aber ich habe gemerkt, dass das kein Problem wird, weil alle im Haus sich so sehr auf Augenhöhe begegnen. Auch Isabella und Daniel. Ich habe nie das Gefühl, ich sitze zwischen Mutter und Sohn, sondern ich sitze zwischen Kolleg:innen.
Frau Vértes-Schütter, eine Besonderheit in der kommenden Spielzeit ist die Aktion, Theaterkarten zu verschenken, ohne Berechtigungsnachweis und auf Vertrauensbasis. Warum machen Sie das?
Isabella Vértes-Schütter: Es geht um Teilhabe. Wie können wir erreichen, dass die Vielfalt unserer Gesellschaft sich bei uns wiederfindet? Dazu gehört die Diversität auf der Bühne und im Zuschauerraum, und es gehört auch dazu, sich über Barrieren Gedanken zu machen, die Menschen mit Einschränkungen betreffen. Natürlich ist es auch eine große Einschränkung, wenn ich mir den Kulturgenuss nicht leisten kann. Also haben wir überlegt, dass es schön wäre, wenn Menschen, die Lust auf Theater haben, aber denen das Geld fehlt, ganz niedrigschwellig trotzdem kommen können und sich eingeladen fühlen.
Das Ernst Deutsch Theater hat eine hohe Zahl an treuen Abonnent:innen, gleichzeitig leiden auch Sie am Publikumsschwund. Ist das ein Dilemma, die einen bei der Stange zu halten und gleichzeitig mit frischen Ideen neue Zuschauer:innen ans Theater heranzuführen?
Ayla Yeginer: Ich finde, dass das Ernst Deutsch Theater immer schon einen sehr vielfältigen und auch mutigen Spielplan gestaltet hat. Also das ist gar nicht so festgelegt, und ich habe da auch gar nicht das Gefühl, da muss man irgendwas Verkrustetes aufbrechen …
Isabella Vértes-Schütter: Wir machen da ja auch gute Erfahrungen. Wir waren zum Beispiel die Ersten, die eine Poetry-Slam-Reihe in den Spielplan aufgenommen haben. Da war dann erst mal ein komplett neues Publikum da, aber peu à peu kamen auch Abonnentinnen und Abonnenten dazu. So entstehen Querverbindungen, und die Jüngeren, die über Poetry-Slam das erste Mal im Theater sind, gucken auch, was es da sonst noch so gibt.
Frau Yeginer und Herr Schütter, welche Art von Stoffen kann man in Zukunft am Ernst Deutsch Theater erwarten? Gibt es Stoffe, von denen Sie jetzt schon träumen?
Ayla Yeginer: Ich glaube, was uns verbindet, ist, dass wir auf der einen Seite Fantast:innen sind und ein großes „Theaterherz“ in uns tragen und gleichzeitig diesen starken Wunsch nach gesellschaftlich bewegenden Themen und Stoffen haben, die zum Beispiel mit Diversität und Gerechtigkeit zu tun haben.
Daniel Schütter: Uns verbindet ein sehr ähnlicher Geschmack und ein sehr ähnlicher Humor. Und wir sind beide große Fans davon, Geschichten und Utopien zu erträumen, die Lust machen, sie zu realisieren, so wie es die Science-Fiction in den 1970ern oder früher auch gemacht hat. Ich glaube, wir als Kunstinstitutionen haben die Möglichkeit, solche Zukünfte zu erzählen, die Lust aufs Leben machen.
Frau Vértes-Schütter, inwiefern werden Sie dem Theater erhalten bleiben? Werden Sie als Grande Dame im Hintergrund weiteragieren oder eher mal unangekündigt als Besucherin auftauchen?
Isabella Vértes-Schütter: Wenn die beiden Fragen an mich haben, dann werde ich versuchen, die zu beantworten. Ansonsten werde ich mich lieber raushalten. Ich freue mich aber sehr, wenn ich als Schauspielerin weiter dabei sein darf. Ich komme ja vom Schauspiel und habe mir das Spielen mit der Zeit wieder zurückerobert. Also ich sehe mich eher als die komische Alte, als als Grande Dame. Und das, was Daniel vorhin gesagt hat, diese Lust aufs Leben, die das Theater auslösen kann: Ich freue mich sehr darüber, dass sich der Blick in die Zukunft so anfühlt.