Fast Fashion

Endstation Wüste

Auch gut erhaltene Schuhe landen auf Müllkippen mitten in der Wüste. Foto: Mauricio Bustamante

Fotograf Mauricio Bustamante ist ans Ende der Fast-Fashion-Wertschöpfungskette gereist: die Atacama-Wüste in Chile. Selbst dort sprießt Hoffnung.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Ich gehe nicht gerne shoppen. Meine Tochter aber schon. Sie muss sich jetzt oft kritische Fragen von mir anhören: Musst du unbedingt noch ein T-Shirt kaufen? Weniger und dafür teurer zu kaufen wäre besser! Ich selbst trage jetzt am liebsten die Klamotten, die ich aus der Wüste mitgebracht habe.

Die Atacama-Wüste liegt im Norden von Chile am Pazifik. Dort befindet sich Iquique, eine moderne Stadt mit etwa 250.000 Einwohner:innen. In der Nachbarstadt Alto Hospicio leben die, die sich Iquique nicht leisten können. Dahinter beginnt die Wüste.

Iquique hat einen Freihafen. Die Stadt lebt von zollfreien Importen aus aller Welt. Waren für ganz Südamerika werden in Iquique umgeschlagen. Man kann dort Autos kaufen, Markenkleidung – fast wie in der sogenannten Ersten Welt. Den Kleiderumschlag organisiert das öffentliche Unternehmen Zofri. Es verkauft die Klamotten in 524-Kilo-Gebinden und gemischt von erster bis sechster Qualitätsklasse an Händler. Die wiederum verkaufen sie auf einem Kleidermarkt in Iquique weiter. Die Händler verdienen ihr Geld mit zehn Prozent von dem, was sie in dem Gebinde vorfinden, der Rest spielt wirtschaftlich keine Rolle und wird weggeschafft: in die Atacama-Wüste. Wer die Kleidung auf welchen Wegen in die Wüste bringt, konnte ich nicht herausfinden. Klar ist aber, so berichteten auch chilenische Medien: Nirgendwo sonst auf der Welt werden so viele Kleidungsstücke „entsorgt“. Die Rede war von riesigen Altkleider-Bergen. Das hat meine Recherche nicht leichter gemacht.

Riesige Flächen aus schwelender Glut: eine illegale Mülldeponie mitten in der Wüste. Foto: Mauricio Bustamante

Mit einem Kollegen aus Chile machte ich mich auf die Suche, um die illegalen Deponien zu finden. Was wir fanden, waren Aschefelder und schwelende Glut. Also fuhren wir zum Kleidermarkt. Mit meinen Kameras kamen wir aber nicht weit. Wir wurden ungefragt begleitet und böse angeguckt. Deutlich bekamen wir signalisiert, dass wir nicht willkommen sind.

Am nächsten Tag fuhr ich zu einer anderen Mülldeponie. Auch die war illegal, aber leicht zu finden. Etwa 30 Müllsammler leben und arbeiten dort. Die meisten suchen den ganzen Tag nach Material, das sie verkaufen oder gegen Essen eintauschen können. Sie hatten daher wenig Lust, sich mit mir, einem Fotografen aus Europa, zu unterhalten. Das Leben auf der Müllkippe ist hart, viele leiden unter Alkohol- und Drogenproblemen. Es war schwer, ins Gespräch zu kommen. Dann aber traf ich auf Brian. Brian ist 20 und stammt aus Bolivien, wo sein Sohn und seine Ex-Frau leben. Seit anderthalb Jahren arbeitet er als Müllsammler in der Atacama-Wüste. Er kennt sich dort hervorragend aus, und das will etwas heißen: Eine einzige Straße führt in die Wüste, sonst sieht man nur kahle Berge und Dünen. Um die Deponien zu finden, mussten wir Reifenspuren im Sand folgen. Brian konnte auch erklären, wieso wir keine Klamottenberge gefunden hatten: Seit das Thema in der Presse war, hat sich das System verändert. Die Kleidung wird nicht mehr zu einer großen Deponie gebracht, sondern an versteckten Orten direkt angezündet.

Der 20-jährige Brian findet mitunter neuwertige Kleidung. Foto: Mauricio Bustamante

Nach fast vier Tagen Suche in der Wüste wurden wir endlich fündig: eine Fläche, groß wie ein Fußballfeld, voll mit Schuhen und Kleidungsstücken. Da waren Sachen von Levis, New Yorker, Zara, H&M, Shein, … An vielen hingen noch Retourenzettel mit Adressen aus London oder Kalifornien. Müll war das nicht.

Brian sah das genauso wie ich. Aber sonst haben nur wenige Menschen in Iquique oder Alto Hospicio ein Bewusstsein für den Wert dieser Kleidungsstücke. Sie zu entsorgen ist für sie einfach weniger aufwendig als eine Wiederverwertung, die Investitionen in Arbeit und Maschinen nötig machen würde. Doch am letzten Tag meiner Reise traf ich auf Menschen, die das anders sehen: beim Projekt „Desierto Vestido“.

Die Leute von Desierto Vestido nutzen alte Klamotten, um in der Wüste eine Oase entstehen zu lassen. Sie pflanzen Eukalyptusbäume, Palmen, Pinien, Passionsfrüchte und Sellerie an einem der trockensten Orte der Welt – auf einem Nährboden aus Jeans und anderen saugfähigen Baumwollprodukten. Die Stoffe bekommen sie von einem Importeur aus Deutschland, der ein in Iquique seltenes Geschäftsmodell umsetzt: Seine Angestellten sortieren Kleidung und klassifizieren sie nach Rohstoffen, bis alles restlos verwertet werden kann. Er verdient so sein Geld, aber sein Geschäft hat auch ökologischen Wert. Die Oase ist das einzige Fleckchen Grün, das ich in der ganzen Region gesehen habe. Gegründet wurde Desierto Vestido von Angela Astudillo, 25, und anderen jungen Unternehmer:innen. Angelas Vater Eduardo Astudillo war früher auch Müllsammler. Der 59-Jährige hat sein Business professionalisiert: Er hat Kleidung verkauft, Plastik, sogar Steine für den Straßenbau. In den vergangenen 30 Jahren hat er sich auf die Verwertung von Rohstoffen spezialisiert. In Alto Hospicio nennt man ihn heute den „Müllkönig“. Der Typ ist unglaublich, er hat 1000 Einfälle. Auch die Oase war ursprünglich seine Idee.

Von seinem Stützpunkt unter Zeltdächern beobachtet Brian, ob auf der Straße Lastwagen kommen. Foto: Mauricio Bustamante

Desierto Vestido zeigt: Auch weggeworfene Ware hat einen Wert. Damit hat die Organisation aber keinen besonders guten Stand in Iquique. Wie Eduardo mir sagte: „Jeden Tag stehen wir auf und pflanzen einen Baum, aber wir sind immer noch nicht im Fernsehen.“ Die Öko-Organisation gilt als Nestbeschmutzer, weil ihre Arbeit auch als Kritik am System verstanden wird.

Ganz knapp gesagt: China produziert, Europa kauft und Südamerika bekommt die Reste. Was in der Wüste passiert, ist nur das Endergebnis – und die meisten Menschen in Iquique wissen nicht einmal von den Müllbergen. Auch die Händler vom Markt, die ihre Restposten in der Wüste verklappen, versuchen nur über die Runden zu kommen mit dem, was die reichen Länder der Welt ihnen übrig lassen. Dass sie die ökologischen Folgen ignorieren, kann man ihnen nur schwer vorwerfen. Es gibt in Südamerika kein Bewusstsein dafür, keine Kultur des Recyclings. Den Müll sehen die Menschen in Iquique nicht. Sie leben mit dem Rücken zur riesigen Wüste und genießen den Blick auf das Meer. Da ist Europa besser. Auch das muss man sehen, finde ich: Nur weil wir hier „Erste Welt“ sind, ist nicht alles schlecht, was wir tun.

Züchten Pflanzen mithilfe alter Jeans: Angela Astudillo und ihr Vater Eduardo. Foto: Mauricio Bustamante

Einer der Gründer von Desierto Vestido hat es auf den Punkt gebracht: Die Länder des globalen Nordens haben eine historische Verantwortung. Sie dürfen ihre wirtschaftliche Entwicklung nicht weiterhin durch Ausbeutung und Verschmutzung des globalen Südens betreiben, sondern müssen helfen, das ganze System wieder in Ordnung zu bringen. Ich finde, dabei können wir alle mitmachen. Meine Tochter etwa will jetzt ihr Geld lieber für Farbe ausgeben, mit der sie selbst ein T-Shirt gestalten kann.

Protokoll: Annabel Trautwein

Artikel aus der Ausgabe:

Was die Welt jetzt braucht

Schwerpunkt Erfindungen: Wir stellen Erfindungen vor, die in den Hamburger Fab Labs entstehen, haben mit dem Social Impact Lab über Sozialunternehmen gesprochen und waren beim Erfinder-Stammtisch zu Gast. Außerdem: Die Parteivorsitzende der Grünen, Ricarda Lang, spricht im Interview über das neue Bürgergeld. Und: Private Initiativen leisten, was die Stadt nicht leisten will: Sie bringen Obdachlose ganztägig in Containern und Hotels unter.

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Autor:in
Mauricio Bustamante
Fotograf in Hamburg
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein schreibt als freie Redakteurin für Politik, Gesellschaft und Kultur bei Hinz&Kunzt - am liebsten über Menschen, die für sich und andere neue Chancen schaffen.

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