Interview mit Hinnerk-Herausgeber Michael Rädel

„Einigermaßen frei“

Am 5. August feiert Hamburg den Christopher Street Day. Foto: IMAGO/HochZweiStock/Henning Angerer

Michael Rädel ist Herausgeber der queeren HamburgerZeitschrift „hinnerk“. Der 46-Jährige erzählt von Errungenschaften der Community – und von wachsendem Hass auf Queers.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Hinz&Kunzt: Wann haben Sie zum ersten Mal den „hinnerk“ gelesen?

Michael Rädel: Ich bin am Bodensee zur Schule gegangen, bei meinem Coming-out war ich 17. Schwule Magazine waren für mich damals völlig neu. Ich kannte den „Magnus“ aus der Aidshilfe und habe ihn von meinem Taschengeld abonniert, mithilfe meiner Mutter, weil ich noch nicht volljährig war. Der hinnerk war damals noch eine Beilage mit Party-Tipps für Hamburg. Weil mein Vater in Hamburg lebte, war das für mich eine gute Sache.

Seit Jahren wartet die LGBTIQ*-Community hier auf ein Denkmal für sexuelle Vielfalt. Wozu brauchen wir das?

Weil Hamburg damit unumstößlich zeigen würde, dass es eine Stadt für alle ist, dass alle Menschen willkommen sind und keine Art der Geschlechtsidentität oder Liebe irgendwie pfui ist. Ich bin sehr für dieses Denkmal.

Warum ist Sichtbarkeit noch immer so wichtig?

Wenn wir dafür sorgen, dass Schwulsein oder Queersein sichtbarer wird, dann sorgen wir damit auch für die­jenigen, die gerade ihr Coming-out haben. Oder auch für den Familienvater, der befürchtet, dass sein Sohn schwul sein könnte. Die sehen dann: Ich bin nicht allein, mein Sohn ist nicht allein. Da gibt es noch viele andere, und das sind auch liebenswerte Mitgeschöpfe.

Das sollte doch selbstverständlich sein. Warum müssen Queers ihre privaten Themen trotzdem so oft öffentlich machen?

Wenn wir Menschen immer nur nach dem einschätzen, was wir sehen und zu erkennen glauben, dann merken wir womöglich gar nicht, wie häufig wir mit queeren oder trans* Personen zu tun haben. Die meisten Menschen gehen immer noch von binären Geschlechterrollen und Heterosexualität aus. Das verzerrt die Wahrnehmung und führt teilweise zu heftigen Konflikten, wenn sich diese Erwartungen nicht bestätigen. Es geht uns nicht darum, jedes Mal zu sagen: Elton John ist übrigens schwul und hat zwei Kinder adoptiert. Aber man muss es manchmal sagen, damit die Leute nicht vergessen, dass es Queers überhaupt gibt und sich dann wundern: Wieso wollen die jetzt plötzlich mehr Rechte?

hinnerk wird dieses Jahr 30 Jahre alt. Wie hat sich das Magazin gewandelt?

Früher hat der hinnerk nur auf Schwule geschaut. Das lag auch an uns als Redaktion: Zu Beginn waren wir alle Männer um die 20, die sich als schwul definiert haben. Da hat man natürlich erst mal geguckt: Was passiert hier Schwules? Aber wir lernen ja auch dazu. Dadurch, dass mehr sexuelle Identitäten sichtbar wurden, schauen wir mehr aus der eigenen Bubble heraus. So wurden wir von schwul über schwul-lesbisch zu queer. Ein Zugewinn für alle.

Wozu brauchte Hamburg in den 1990ern ein Magazin für schwule Männer?

Es war die Zeit vor dem Internet. Viele, die einen Mann fürs Leben suchten, wussten damals nur von den eher auf Sex ausgerichteten Läden an der Reeperbahn. Im hinnerk konnte man sehen: Bei mir um die Ecke oder ein paar Stationen weiter gibt es eine schwule Party. Und Ärzt:innen, die sich mit queeren – oder damals eben schwulen – Belangen auskennen. In den 1990ern war die Sorge noch stärker verbreitet, dass man geoutet werden könnte, wenn man bestimmte Angebote aufsuchte. Es kam öfter vor, dass man als schwuler Mann schlecht behandelt wurde. Wenn wir im hinnerk eine Arztpraxis, ein Geschäft, ein Fitnessstudio erwähnt haben, konnte man davon ausgehen: Das ist, wie es damals hieß, „schwulenfreundlich“.

Wieso spielt im hinnerk der Blick in die Geschichte immer wieder eine Rolle?

Noch in den 1970ern war es unmöglich, als schwules Pärchen eine Wohnung zu mieten, auch in Hamburg. Es gab natürlich WGs und Hausbesetzungen – mit dieser Szene ist die queere Szene auch deshalb verbandelt, weil sie die extremst konservativen Gesellschaftsstrukturen der 1970er gemeinsam aufbrechen mussten. Aber das waren auch harte Kämpfe. 1980 fand der erste CSD in Hamburg statt, damals waren Übergriffe der Polizei auf Schwule und Lesben noch sehr häufig. Der Paragraf 175, der gelebte Homo­sexualität unter Strafe stellte, wurde erst 1994 abgeschafft. Ich finde, hinnerk ist gut darin, schwule und queere Geschichte zu transportieren, gerade für unsere jüngeren Leser:innen.

Wieso gerade für die?

Wer heute sein queeres Coming-out hat – oder vielleicht gar kein Coming-out mehr braucht und einfach queer lebt –, weiß womöglich nicht, wer Corny Littmann ist, wofür CSD steht oder wieso das Jahr 1969 für Queers so wichtig ist. Da versuchen wir unterhaltsam zu vermitteln: CSD steht für Christopher Street Day, benannt nach der Straße in New York, wo 1969 in der Bar „Stonewall“ die ersten Aufstände der Nachkriegszeit gegen heterosexuelle Unterdrückung stattfanden.

In 30 Jahren hat sich viel verändert für queere Menschen in Hamburg. Was waren aus Ihrer Sicht Meilensteine?

Sicherlich die Gründung der Aidshilfe Hamburg 1984. Aids war eine Katastrophe, die die Szene erschütterte. Ganz viele schwule Männer starben, und man wusste anfangs nicht warum. Mitte der 1990er hat die Aidshilfe das Projekt „Leuchtfeuer“ ins Leben gerufen, 1998 gab es das erste Hospiz für Menschen mit HIV und Aids. Ein Meilenstein, der noch weiter zurückliegt, war, dass Corny Littmann die Spiegel auf der Klappe zerschlagen hat.

Was war das für eine Aktion?

Das war 1980. Damals trauten sich Männer in der Regel nicht, romantische Beziehungen miteinander zu haben. Man hat seine schwulen Belange nur ausleben können, indem man auf öffentlichen Toiletten, sogenannten Klappen, Sex hatte. Corny Littmann hat auf einer Klappe am Spielbudenplatz einen Spiegel zerschlagen, und dahinter waren Kameras. Er hat damit gezeigt, dass Schwule von der Polizei beobachtet wurden und dass es sogar Listen gab. Die Aktion hat auch gezeigt, dass man sich nicht alles gefallen lässt und dass man das auch nicht mehr will: das Verlangen nach Liebe ummünzen zu müssen in Sex auf einer öffentlichen Toilette. Dass man inzwischen in Hamburg einigermaßen frei leben kann, wurzelt in dieser Aktion von Corny Littman.

Einigermaßen frei?

Es wäre naiv zu denken, man könne als queerer Mensch heute wirklich frei leben, auch nicht in Hamburg. Antiqueere Hassgewalt nimmt stark zu. Je sichtbarer man wird, desto mehr Übergriffe erlebt man – dumme Sprüche, Menschen, die mit dem Finger auf einen zeigen, Bierflaschen, die einem nachgeschmissen werden, bespuckt oder ausgelacht werden in der U-Bahn. Wenn man Hand in Hand aus dem Café Gnosa in der Langen Reihe kommt und vorbei am Hauptbahnhof zum Hafen geht, dann erlebt man so was mehr als einmal.

Dass es so extrem ist, hätte ich als Nichtbetroffene nicht erwartet.

Ich sage nicht, dass man ständig verfolgt oder grün und blau geprügelt wird. Aber machen Sie doch mal den Test und laufen Sie mal zwei Stunden mit einer Person desselben Geschlechts Hand in Hand durch die Stadt. Irgendwas wird auf jeden Fall passieren, und sei es nur ein dummer Kommentar oder ein Nachrufen. Wenn ich mit meinem Partner Hand in Hand gehen möchte, dann tue ich das. Aber natürlich scannen wir beide ständig die Umgebung: Sind da irgendwelche Jungmachos, die sich provoziert fühlen könnten? Haben wir Sprüche wie „schwule Sau“ oder „ekelhaft“ gehört? Als queerer Mensch wägt man immer ab. Das ist irgendwann in einem drin.

Das klingt, als wären wir als Gesellschaft noch immer sehr rückständig.

Die Emanzipation der queeren Szene ist noch längst nicht erreicht. Jetzt heißt es oft: „Schwul ist ja okay, aber was wollen die ganzen trans* Leute hier?“ Je mehr sexuelle Identitäten sichtbar werden, desto mehr fühlen sich Menschen offenbar provoziert.

Muss eine Demokratie das Gewettere über „Genderwahn“ aushalten oder schaden solche Debatten nur?

Eine Demokratie hält sogar Hassbotschaften aus, wenn die Diskussionen darüber fair und auf Augenhöhe
geführt werden. Demokratie heißt ja auch, dass alle mitmachen müssen und dass man sich nicht wegduckt oder die Homepage wechselt, wenn einem Menschenfeindlichkeit begegnet – auch wenn es stresst, sich damit auseinanderzusetzen. Wenn man Hetzern die Bühne überlässt, dann schadet das unserer Gesellschaft. Weg­gucken ist immer falsch.

Haben Sie Verständnis für Leute, die sagen: „Wir brauchen mehr geschützte Räume, in die wir uns zurückziehen können?“

Mich stört das Wort „zurückziehen“, denn das impliziert wieder ein Unsichtbarwerden. Dass es mehr „Safe Spaces“ geben sollte, finde ich allerdings wichtig. Solche geschützten Räume können aber allen offenstehen, sie müssen nicht exklusiv sein. Das kann auch eine normale Konzerthalle sein, wo das Team besonders geschult wurde und verinnerlicht hat: Nehmt Rücksicht, beobachtet genau, seid offen für die Probleme anderer. Dann ist jeder Ort ein Safe Space.

Artikel aus der Ausgabe:

„Wir wollen arbeiten“

Alle reden vom Fachkräftemangel, dabei sind viele potenzielle Fachkräfte schon in Deutschland, scheitern aber an den Hürden der Bürokratie. Wir haben mit einigen von ihnen gesprochen. Außerdem: Hamburg feiert den CSD. Im Interview spricht Michael Rädel, Herausgeber der queeren Zeitschrift „hinnerk“ über das Thema Sichtbarkeit. Und: Ein Wilhelmsburger Lehrer verhandelt mit seinen Schüler:innen Themen wie interkulturelle Verständigung oder die Shoa auf der Theaterbühne.

Ausgabe ansehen
Autor:in
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein schreibt als freie Redakteurin für Politik, Gesellschaft und Kultur bei Hinz&Kunzt - am liebsten über Menschen, die für sich und andere neue Chancen schaffen.

Weitere Artikel zum Thema