Wie sieht sozialer Zusammenhalt vor Ort aus? In Eimsbüttel zeigen es Ehrenamtliche und Geflüchtete in einem gemeinsamen Hilfsprojekt.
In dicke Jacken gehüllt sammeln sich rund 20 Menschen an einem Samstag Anfang November vor dem Eingang zum ehemaligen Pastorat der St. Stephanus-Kirche Eimsbüttel. Einige von ihnen tragen voll bepackte Tüten und Taschen in den Händen. Constance Böhle steht in der Tür, begrüßt die Wartenden und lässt einen ersten Schwung Menschen herein. Immer nur zehn auf einmal. Sonst wird es zu voll.
Die 47-Jährige ist Gründerin des Projekts „Tausch & Schnack“. Als Russland im Februar vergangenen Jahres die Ukraine überfiel, wollte Böhle aktiv werden. Die Pastorin und Kirchengemeinderatsvorsitzende der Eimsbütteler Kirchengemeinde, Nina Schumann, für die Böhle freiberuflich arbeitet, bot ihr die leer stehenden Räumlichkeiten im Hellkamp an. Gemeinsam mit dem Ortsverband Hamburg-Mitte des Arbeiter-Samariter-Bundes entstand dann die Idee, ein Tauschangebot für Geflüchtete zu schaffen. Das Prinzip ist simpel: Anwohner:innen spenden Haushaltsartikel oder Spielzeug, Geflüchtete suchen sich aus, was sie brauchen. „Das Projekt richtet sich an alle Geflüchteten die ein Jahr oder kürzer hier sind, es ist als Starthilfe gedacht. Momentan sind 90 Prozent der Menschen Ukrainer“, sagt Böhle. Kerngedanke von Beginn an: Anwohnende und Geflüchtete packen zusammen an. So wurden die bis dahin schwarz gestrichenen Räume, die zuletzt als Probebühne eines Theaters genutzt wurden, gemeinsam weiß gestrichen, Regale im Team aufgebaut. Und auch am Empfang stehen deutsche und ukrainische Helfer:innen gemeinsam, nehmen Spenden in Empfang und sprechen mit Gästen.
Die eine Hälfte eines Teams besteht immer aus Anwohnenden, die andere aus Geflüchteten. Letztere können sich wegen der gemeinsamen Muttersprache besser mit denen verständigen, die Hilfe benötigen, erklärt Böhle. Im Mittelpunkt stehe etwas anderes als die Verteilung von Spenden: „Im Kern geht es nicht darum, Waren zu tauschen. Das Hauptanliegen ist, dass man über den Tausch in Kontakt kommt. Das Drumherum ist wichtig!“
Sergei gehört seit einem Jahr zum Team. Der Familienvater ist aus der ostukrainischen Kleinstadt Selenodolsk geflohen und ursprünglich über einen Sprachkurs bei Tausch & Schnack gelandet. Jetzt räumt er gerade Regale ein. „Hier habe ich großartige Menschen getroffen und seitdem komme ich, um zu helfen“, erklärt er mithilfe einer Übersetzungsapp. Was ihn antreibt? Die Einheimischen seien nett und die Arbeit mache Spaß. Vor allem aber bewegt ihn eines: „Durch die Arbeit hier muss ich mich nicht selbst bemitleiden.“ Auf die Frage, wie alt er ist, lächelt Sergei verschmitzt und gesteht dann: „53 Jahre. Heute ist mein Geburtstag.“ Augenblicke später schmettern die deutschen und ukrainischen Helfer:innen zusammen mit den Gästen ein lautes „Happy Birthday“, und Sergei kommt vor lauter Umarmungen erst einmal nicht mehr zum Arbeiten.
Tausch & Schnack
Constance Böhle und ihr Team bieten im Tausch & Schnack eine ganze Reihe von Aktivitäten und Hilfen an: Yogakurse, eine Malwerkstatt für Kinder und auch eine regelmäßige Sprechstunde für kriegstraumatisierte Kinder mit einer ukrainischen Kinderpsychologin. Gerade erst hat das Projekt den „Deutschen Nachbarschaftspreis“ gewonnen, im Sommer wurde es von Bundeskanzler Olaf Scholz mit dem „startsocial“-Preis ausgezeichnet. Und es entstehen immer wieder neue Ideen.
So hat Anwohnerin Cordula Ackermann eine Leihbücherei mit deutschen und ukrainischen Kinderbüchern auf die Beine gestellt. An diesem Samstag bringt sie mal wieder eine Handvoll Bücher mit ins Tausch & Schnack.
Diese seien eine tolle Brücke, um in Kontakt zu kommen, auch wenn die Menschen noch nicht gut Deutsch sprechen, sagt Ackermann. Ihr Engagement baut aber noch weitere Brücken: „Man trifft viele tolle Menschen, lernt sich untereinander kennen. Das macht etwas mit einem.“ In der Gesellschaft werde momentan viel gejammert, gerade über Geflüchtete, sagt sie: „Wenn die Menschen nicht so viel reden, sondern einfach machen würden, würde das schon richtig viel bringen.“
Immer samstags verwandeln sich die Kellerräume des ehemaligen Pastorats ins „KaffeeSchnack“. Dort gibt es Kaffee und Kuchen, von dem ein Teil gespendet wird, den anderen backen Freiwillige selbst. Auch im Café soll es ums Kennenlernen gehen, erklärt Böhle: „Unser Angebot richtet sich an Geflüchtete genauso wie an
Deutsche.“ Der Raum ist an diesem Samstag gut gefüllt. Tatiana aus Mykolajiw, Orlena aus Kiew und Oleg aus Saporischschja gehören zu denen, die es sich bei Kaffee und Kuchen gemütlich gemacht haben.
Eine schöne Ablenkung vom Alltag sei der Ort, meinen die drei in Hamburg Gestrandeten, die von Landsleuten vom Projekt erfahren haben. Orlena und Tatiana leben noch in einer Geflüchtetenunterkunft. Sie sind auf der Suche nach einer Wohnung und Arbeit in ihren Berufen als Hebamme und Erzieherin. Oleg hat schon eine eigene Wohnung in Hamburg gefunden. Einheimische Gäste, die einfach nur zum Kaffeetrinken vorbeikommen, sucht man derweil vergebens. Woran liegt das? „Viele Deutsche helfen, um die eigene Ohnmacht zu bekämpfen. Statt nur vor dem Fernseher zu sitzen und sich zu fragen, was man tun könnte, kann man hier aktiv werden“, mutmaßt Böhle: „Wir tun hier etwas für die Menschen. Einfach nur zu kommen, darin sehen viele keinen Sinn, vermute ich.“
Zumindest unter den deutschen und ukrainischen Helfenden geht das Konzept aber voll auf. „Wir sind wirklich so etwas wie eine Familie geworden. Wenn in der Whatsapp-Gruppe jemand seine Schicht absagen muss, weil er krank ist, dann übernimmt nicht nur jemand die Schicht – dann wird auch noch gefragt: ,Soll ich dir eine Hühnersuppe vorbeibringen?‘“, erzählt Constance Böhle strahlend. Insbesondere bei älteren Menschen wirke die Arbeit auch gegen Einsamkeit. Als Dankeschön haben sie im Sommer ein Fest für die Helfenden veranstaltet, auch ein Weihnachtsfest ist geplant. Allerdings: „Das wollen die eigentlich gar nicht. Zu helfen scheint eine größere Motivation zu sein, als etwas zu bekommen. Eigentlich total positiv, wenn man sich die Gesellschaft so anschaut.“