Meine Geschichte

Einer der Ersten

Eine Anlaufstelle, die ihn während all der Jahre bei Problemen begleitet hat – das ist Hinz&Kunzt für Michael. Foto: Dmitrij Leltschuk

Michael ist seit fast 30 Jahren Hinz&Kunzt-Verkäufer.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Woran sst sich Erfolg messen: an Geld, an Bildung, Gesundheit oder Glück? Wenn man diese Parameter ansetzt: Kann es also keine Erfolgsgeschichte sein, wenn ein Mann erzählt, dass er mit 17 Jahren seinen Hauptschulabschluss machte und mit Anfang 20 dreimal aus dem Gefängnis floh? Und er seit fast 30 Jahren Straßenmagazine verkauft; auch, um sich heute, als 54-Jähriger, mit dem Verdienst regelmäßig Gras kaufen zu können?

Es ist die Geschichte von Michael, also: teilweise. Denn zu ihr gehört auch, dass er als Jugendlicher schon fünf Jahre auf der Straße lebte und trotzdem seinen Hauptschul­abschluss schaffte. Dass er, in Berlin geboren, mit zwölf Jahren von zu Hause floh, weil er die Gewalt dort nicht mehr aushielt. Dass er nach einem Trümmerbruch im Knie seine Lehre als Maschinenschleifer nicht weiterführen konnte und dann seine Sachen packte, in den nächsten Zug stieg, vom Bahnhof Zoo bis nach Kiel. Dort lebte er mit einer Freundin. Und begann mit den Drogen, mit Kokain und Heroin, die ihn lange begleiten sollten. In Kiel wurde Michael wegen einer Straftat verurteilt. Er habe einen anderen Mann zusammengeschlagen, sagt er: 54 Monate Gefängnis, er galt als ­jugendlicher Ersttäter. Nach der Haft fand er seinen Weg nach Hamburg, lebte auf der Straße und in der Notunterkunft Pik As. Ein Freund brachte ihn zu Hinz&Kunzt. Und so wurde Michael zu einem der ersten, die das Magazin auf Hamburgs Straßen verkauften.

Damals, erzählt er, rissen ihm die Leute die Magazine nur so aus den Händen, einer gab ihm für seine erste Ausgabe 50 Mark, bevor er sie überhaupt aus der Tasche holen konnte. Die Leute klopften an die Busfenster, wenn sie ihn sahen, winkten ihm, er solle ein Magazin für sie aufheben. Heute arbeiten bei Hinz&Kunzt viel mehr Verkäufer:innen als ­damals, die Auflage verteilt sich auf mehr Hände in ganz Hamburg. Michael merkt, dass der Ansturm nicht mehr so groß ist wie damals, doch Stammkundschaft hat er nach wie vor. Es sind immerhin fast 30 Jahre vergangen, und Michael ist noch immer Hinz&Kunzt-Verkäufer. Seit 20 Jahren steht er ums Eck vom Gänsemarkt, mittlerweile vor der Globetrotter-Filiale.

Heute lebt er nicht mehr auf der Straße, sondern in ­einer Wohnung in Bremerhaven, an die kam er durch einen zufälligen Kontakt mit einem freundlichen Vermieter. Dreimal die Woche fährt er nach Hamburg, um das Straßenmagazin zu verkaufen. Mit den Öffentlichen fährt er umsonst, weil er einen Schwerbehindertenausweis hat; das Gras kauft er sich von seinem Verdienst, ein Rezept für medizinisches THC wurde von der Krankenkasse bisher abgelehnt. Michael hat eine voranschreitende Querschnittslähmung, verursacht durch eine extrem seltene Erkrankung namens Spondylitis: „Drei Löcher in der Wirbelsäule“, sagt er, die nicht mehr zu heilen sind. Er braucht starke Schmerzmittel, aber Morphium? „Ich hing 30 Jahre an der Nadel, da will ich nicht wieder hin.“ Medikamente wie diese sollen ihn nicht wieder zurück in seine Vergangenheit werfen, in die Jahre der Sucht, aus der er sich mit Ende 40 endlich herausgekämpft hat. Seit vier Jahren braucht er keine Substitute mehr.

Wenn man Michael nach den vergangenen 30 Jahren fragt, dann sagt er, dass er nicht nur Magazine verkauft hat, weil er damit etwas Geld verdienen konnte. Er sei bei Hinz&Kunzt geblieben, weil man ihm hier zugehört und geholfen habe, wenn er Probleme hatte. Für ihn sei das ­Projekt eine Anlaufstelle, die ihn während all der Jahre ­begleitet hat und es bis heute tut. Bei der Wohnungssuche, bei Behördengängen und nun, wenn es um seine ärztliche Versorgung geht. Ohne Medikamente bekommt er Krämpfe, sein ganzer Körper zieht sich zusammen, er kann sich dann nicht mehr bewegen. Michael weiß, dass er in absehbarer Zeit im Rollstuhl leben wird.

Wie also misst man Erfolg? Vielleicht auch so: Michael ist ein ruhiger, freundlicher Mann mit einem sanften Händedruck, der ab und zu lächelt. Wenn man etwas sagt wie: Hinz&Kunzt wird 30 und du warst die ganze Zeit dabei, dann nickt er. Und lächelt.

Artikel aus der Ausgabe:

Happy Birthday: Die Hinz&Kunzt-Geburtstagssause

30 Jahre Hinz&Kunzt! In unserer neuen Ausgabe präsentieren wir das ausführliche Geburtstagsprogramm, schöne Erfolgsgeschichten und legen zugleich den Finger in die Wunde, weil in Hamburg nach 30 Jahren Hinz&Kunzt weiterhin etwa 2000 Menschen auf der Straße leben.

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Autor:in
Anna-Elisa Jakob
Anna-Elisa Jakob
Ist 1997 geboren, hat Politikwissenschaften in München studiert und ist für den Master in Internationaler Kriminologie nach Hamburg gezogen. Schreibt für Hinz&Kunzt seit 2021.

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