Für seine ersten Werke bekam der Künstler Albert Schindehütte Wurst und Bier als Bezahlung. Heute, mit fast 75 Jahren, lebt er in Övelgönne in einem Häuschen mit Elbblick. Er arbeitet noch immer, auch für Hinz&Kunzt: Im Juli schmücken seine Illustrationen unser Sommerrätsel „plietsch!“.
(aus Hinz&Kunzt 256/Juni 2014)
Da steht ein Pferd auf dem Flur. Ein Schaukelpferd aus Holz. Fast hätte man es übersehen. Das Haus des Zeichners Albert Schindehütte in Övelgönne ist voll von bemerkenswerten Dingen. An den Wänden hängen unzählige Illustrationen und Radierungen des Künstlers dicht an dicht. Kleine, große, mittlere, übereinander, untereinander, ohne erkennbare Ordnung. „Petersburger Hängung“, sagt der Hausherr und lacht, „wie in der Eremitage.“
Auch das lackschwarze Klavier wird respektlos als Ablagefläche für diverse Bücher und lose Blätter des Mannes genutzt, den alle nur Ali nennen. Hoch aufgeschossen, weißes Haar und Schnurrbart, den Schalk im Nacken verrät sein neugieriger Blick. So hatte uns der 74-Jährige die Tür geöffnet. Um uns direkt zu schelten: „Ihr seid eine halbe Stunde zu früh!“ Reinkommen dürfen Fotograf Dmitrij Leltschuk und ich trotzdem. Auf dem Tisch, an dem uns der Hausherr platziert, steht ein Porzellanteller, darauf eine Auswahl an Kuchen und Keksen. Den Tee brüht er schnell selbst noch auf, Momentchen. Bis dahin: „Schaut euch mal dieses Buch an“, sagt er und reicht einen Wälzer herüber: „Es war einmal – Die wahren Märchen der Brüder Grimm und wer sie ihnen erzählt hat“. Schindehütte hat es herausgegeben und illustriert. Die Bilder von Wölfen, Brüderchen und Schwesterchen und anderen bekannten Märchenfiguren strahlen uns in bunt-satten Farben entgegen.
Mit den Märchen hat es Ali Schindehütte. „Aber auch noch nicht so lange“, sagt er. Aber er fand heraus, dass er mit einem sogenannten Märchenbeiträger verwandt war: Johann Friedrich Krause. Einer von vielen, die den Grimms erzählten, was diese dann aufschrieben und zum Kanon machten. Dieser Krause lebte im hessischen Breitenbach. Dort ist auch Schindehütte aufgewachsen. 2000 Seelen, Wiesen und Wälder, Landwirtschaft. Sein Vater arbeitete erst als Kraftfahrer, später als Schlachter. Die Mutter zog die Kinder groß. Und wunderte sich über das ungewöhnliche Hobby ihres Jungen: „Ich habe schon immer gezeichnet – aus unerfindlichen Gründen für meine Umwelt“, erinnert sich Schindehütte. Der örtliche Schreibwarenladen wird sein Lieblingsort. Dort, wo es Papier in allen Sorten, Stifte und verständige Menschen gibt.
Anders als im Arbeitsamt. „Die haben mir eine Lehre als Schaufensterdekorateur empfohlen“, sagt Schindehütte. Er guckt, als hätte ihm jemand saure Milch in den Tee gegossen. Bevor er zur Arbeit ging, musste er morgens den Stall ausmisten. Der Lieblingsspruch seines Chefs: „Würste kann er halten mit seinen Fingern, aber Stecknadeln nicht.“ Die Lehrzeit endet abrupt nach dem berüchtigten „Leitervorfall“. Schindehütte hatte absichtlich die Leiter zusammengeklappt, auf der sein ungeliebter Vorgesetzter gerade stand.
Erst die Professoren an der Kasseler Werkkunstschule erkennen sein Talent. Die Aufnahmeprüfung hat er schon bestanden, als die Kommilitonen noch ihr Material auspacken. 19 Jahre ist er da und wohnt nah an einer Kneipe. Die Musikbox spielt „Brennend heißer Wüstensand“ von Freddy Quinn oder Peggy Marchs „Mit 17 hat man noch Träume“. „Was man damals eben gern gehört hat“, sagt Schindehütte. Er illustriert diese „Schlager der Woche“, der Wirt hängt die Bilder in seiner Kneipe auf. Seine erste Ausstellung, wenn man so will. Bezahlt wird der junge Künstler schließlich auch: „Mein Honorar war eine Currywurst und ein paar Bier“, erinnert er sich.
„Berlin und ich, das war Liebe auf den ersten Schluck.“
Nach dem Studium verbringt er eine Sturm-und-Drang-Zeit in Berlin, gründet dort die Künstlergruppe „Die Rixdorfer“ mit. Die Berliner Morgenpost nannte sie 2013 „die Boygroup der deutschen Kunst“. Er stellt jetzt in echten Galerien aus. Zu seinen Freunden zählen Rudi Dutschke und Jakob Augstein – und der Alkohol. „Berlin und ich, das war Liebe auf den ersten Schluck“, sagt Schindehütte. „Man hat sich so verloren, die Stadt machte es einem leicht.“ Schöne Erinnerungen sind geblieben, aber auch eine kaputte Beziehung. Manchmal ging er abends aus dem Haus und kam erst sechs Tage später wieder. „Wenn es damals schon Handys gegeben hätte, vielleicht wären wir noch zusammen“, sagt er.
Einen Lebensplan hat es nie gegeben. Er zeichnet einfach immer weiter. Nackte Männer auf Sylt, Rabentiere, berühmte Köpfe wie George Gershwin oder Frédéric Chopin. Er gestaltet Bücher. Seine Zeichnungen, Radierungen, Lithografien und Holzschnitte werden im In- und Ausland ausgestellt. 2009 bekommt er den Hessischen Verdienstorden am Bande, für seine „langjährigen Verdienste um die Kultur“. In seiner Heimat hat er die „Märchenwache“ aufgebaut, eine zur Galerie umgewidmete alte Feuerwehrwache.
„Natürlich arbeite ich noch jeden Tag. Was soll ich denn sonst tun?“
Dabei könnte er sich doch längst zur Ruhe setzen. Als Pensionär den großartigen Elbblick und seinen Garten genießen, hier in Övelgönne, wo er seit mehr als 30 Jahren mit seiner Lebensgefährtin wohnt. Den Lebensabend genießen. Gar nicht dran zu denken. „Schrecklich, wenn die Leute auf ihre Rente hinfiebern, die können einem leidtun“, sagt Schindehütte und ist auf einmal richtig in Rage. „Natürlich arbeite ich noch jeden Tag. Was soll ich denn sonst tun?“ Nach seinem Lieblings-Genre gefragt, guckt Ali Schindehütte amüsiert-irritiert. Dann sagt er: „Immer das, was ich gerade gemacht habe, hat mir am besten gefallen.“
Beim Abschied fällt der Blick noch einmal auf das Klavier im Flur. Nein, nein, er selbst könne nicht spielen. Sein Enkel fange gerade an. Die Tasten habe er mit bunten Filzmalstiften markiert. Ali Schindehütte lacht schallend.
Text: Simone Deckner
Foto: Dmitrij Leltschuk
Illustrationen: Albert Schindehütte
Ali Schindehütte ist Hinz&Kunzt seit Langem verbunden: Das Titelblatt unserer zweiten Ausgabe stammt von ihm. In der Juli-Ausgabe gibt es ein Wiedersehen mit ihm beim Sommerrätsel Plietsch!, für das er Illustrationen beisteuert.
Am 18. Juni um 19 Uhr ist Vernissage der Ausstellung „Des Raben Wunderhorn“ in der Fabrik der Künste, Kreuzbrook 10/12. Geöffnet bis 6. Juli, Di–So von 15–19 Uhr, Eintritt 5 Euro, www.fabrikderkuenste.de
Außerdem arbeitet Schindehütte gerade an zwei Büchern gemeinsam mit dem Hamburger Fotografen Michael Zapf, die zeigen, wo Käufer ihre Werke von Schindehütte zu Hause aufgehängt haben.