Nach 27 Jahren verlässt Chefredakteurin Birgit Müller Hinz&Kunzt. Mit Annette Bruhns hat das Team eine Top-Nachfolgerin gefunden. Zum Abschied sprechen die beiden über die Gründungsjahre des Projekts, berufliche Highlights und die Zukunft des Magazins.
Annette: Birgit, du hast dich von einer festen Stelle beim Hamburger Abendblatt ins Ungewisse gestürzt, um ein Straßenmagazin mitzugründen. Das war 1993. Warst du jung und naiv?
Birgit: Ich war mit 37 Jahren so jung und naiv, dass ich glaubte, noch anderswo einen festen Job kriegen zu können, wenn es schiefgehen würde.
Annette: Wann hast du gemerkt, dass Hinz&Kunzt ein echter Straßenfeger wird?
Birgit: Fast sofort. Als eine Kollegin vom Abendblatt hörte, dass wir 30.000 Exemplare von der ersten Ausgabe gedruckt hatten, war sie schockiert: Wer das denn alles kaufen solle? Und dann waren wir nach zehn Tagen ausverkauft, obwohl wir erst 35 Verkäufer*innen auf den Straßen hatten. Wir wuchsen dann schnell durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Als wir eine Anschubfinanzierung von 50.000 Mark von der Kirche bekamen, haben wir sofort Obdachlose im Vertrieb eingestellt.
Annette: Gab es Momente, an denen du aufgeben wolltest?
Birgit: Politisch gab es Jahre, in denen sich gar nichts bewegt hat. Das haut ganz schön rein, wenn man immer wieder sagt: „Winternotprogramm, bitte ganztägig öffnen! Bitte keine Sammelunterkünfte!“ Wenn man immer wieder konstruktiv auf andere Städte verweist, die es schon besser machen. Und es passiert: nichts. Dann kommt einem die Arbeit schon mal sinnlos vor.
Annette: Welche Fehler sollte deine Nachfolgerin vermeiden?
Birgit: Man darf die Verkäufer*innen nicht mit den eigenen Erwartungen unter Druck setzen. In den ersten beiden Jahren habe ich oft zu jemandem gesagt: „Du schaffst das doch locker, vom Alkohol wegzukommen!“ Als er dann einen Rückfall hatte, ist er abgetaucht, weil er sich so vor mir geschämt hat. Das fand ich schlimm. Was mir nicht klar war: Viele Menschen, die für uns arbeiten, sind traumatisiert oder suchtkrank oder beides. Die schaffen es oft nicht so schnell, wieder Fuß zu fassen, wie du oder ich das als gutbürgerlich aufgewachsene Frauen könnten.
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Etwas Heilsameres gibt es nicht.“– Birgit Müller
Annette: Für deine Arbeit hast du das Bundesverdienstkreuz bekommen. Wie erinnerst du die Verleihung?
Birgit: Ursprünglich war mir die Auszeichnung peinlich, weil es ja nicht allein mein Verdienst, sondern dem Herzblut eines ganzen Teams geschuldet war. Und dann wurde es eins der schönsten Feste meines Lebens. Melanie Leonhard, damals neue Sozialsenatorin, ließ sich darauf ein, die Medaille nicht im Rathaus zu verleihen, sondern bei uns, mit allen Verkäufer*innen. Auch wenn wir politisch oft Stress haben: Das werde ich ihr nie vergessen.
Annette: Was war dein größter Erfolg?
Birgit: Das ganze Projekt ist ein Erfolg! Hinz&Kunzt ist so eine einfache Idee und so eine gute: dass obdachlose Menschen dadurch, dass sie etwas anzubieten haben, in Kontakt kommen. Etwas Heilsameres gibt es nicht. Wir haben sogar Verkäufer*innen, die über Kund*innen eine Wohnung gefunden haben. Oder die Liebe ihres Lebens.
Annette: Du gehst, Hinz&Kunzt bleibt. Was wünschst du dem Projekt?
Birgit: Dass die Verkäufer*innen im Mittelpunkt bleiben. Dass Hinz&Kunzt weiterhin schnell und unbürokratisch auf Situationen reagiert. Wie mit der Hotelunterbringung. Und dass das Magazin noch mehr Leser*innen gewinnt – auch jüngere. Und ich glaube, mit deiner Energie und deiner Erfahrung steigt die Auflage bestimmt.
Annette: Glaubst du? Das ist eine ziemlich hohe Erwartung!
Birgit: Jetzt habe ich aber noch eine Frage an dich. Du bist seit Mitte November bei uns, nach 25 Jahren beim Spiegel. Was ist das Überraschendste für dich?
„Ich habe das Gefühl, hier etwas bewegen zu können.“– Annette Bruhns
Annette: Das strukturierte Chaos, das hier herrscht: Verkäufer*innen kommen und gehen, die Räume sind so winzig, dass nicht einmal der Geschäftsführer ein angemessenes Büro hat; die Assistent*innen arbeiten als Pool für alle Bereiche. Im Grunde ist das eine ultramoderne Unternehmenskultur: Sie ermöglicht Flexibilität, indem sie nicht auf Architektur und Status setzt, sondern auf Köpfe und Ziele.
Birgit: Das ist nett gesagt! Hier ist es ganz schön rummelig. Ist das nicht auch schwierig für dich?
Annette: Ja, klar. Ich bin es gewohnt, dass alles feste Plätze hat, dass man weiß, wer oben und wer unten ist. Aber mir macht es Spaß hier. Ich habe das Gefühl, hier etwas bewegen zu können.
Birgit: Und wie geht es dir damit, dass Hinz&Kunzt ein politisches Projekt ist?
Annette: Ich möchte meine journalistische Unabhängigkeit bewahren und zugleich Dinge anschieben für Obdachlose und andere benachteiligte Gruppen. Das ist eine hohe Verantwortung. Ich bin gespannt, übrigens auch auf dein Leben nach Hinz&Kunzt. Was hast du vor?
Birgit: Meinen Kopf lüften! Schauen, was noch in mir steckt. Und wo siehst du dich in einem Jahr?
Annette: Ich wünsche mir, dass das Magazin mindestens so gut verkauft wird wie jetzt. Dass die Hamburger*innen es wirklich lesen wollen und nicht womöglich aus Mitleid mit den Verkäufer*innen danach greifen. Außerdem hoffe ich, dass die Hinz&Künztler*innen es dann auch digital anbieten können, für die Leute, die nur noch auf dem Handy lesen. Und natürlich: Dass die Politik uns gehörig fürchtet!