Unterkünfte :
Ein Platz für Tobias, Mujib und Co.

Tobias (25) ist ein Obdachloser aus Hamburg, Mujib (17) ein Flüchtling aus Afghanistan. Die beiden sind nur zwei von Tausenden, die in Hamburg wohnungslos sind und dringend ein Zuhause brauchen.

(aus Hinz&Kunzt 260/Oktober 2014)

Ist sauer auf uns: Tobias

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Mujib und Tobias: zwei junge Leute, die nicht wissen, wo ihr Zuhause ist.

Draußen bellt schon wieder ein Hund. Das hallt doll in unserem Hinz&Kunzt-Hof, und wir haben schließlich Nachbarn, die sich beschweren. Ich geh also raus, bestimmt ist das doch Diego, denk ich genervt. Der Hund von Tobias. Tobias ist einer aus unserer jungen Gang, die tagein, tagaus bei uns im Hof sitzt, oft stundenlang. Mit Rucksack.

Diego, der Hund, ist ein guter Wachhund; wehe, irgendjemand nähert sich dem Rucksack, den muss er ja schließlich bewachen. „So geht das nicht, das weißt du!“ Tobias merkt natürlich, dass ich genervt bin. Und auch er ist sauer. Ich bin nämlich nicht die Erste, die rauskommt und ihn ermahnt. „Eben hat sich eine ganze Gruppe lautstark unterhalten und ihr habt nichts gemacht. Da traut ihr euch wohl nicht“, sagt er.

Nicht trauen? Witzbold, klar trau ich mich! Aber die gehen dann auch um die Ecke oder machen einfach mal Platz. Die Jungen, so haben wir das Gefühl, die bleiben einfach da sitzen. „Wie bitte? Das stimmt doch gar nicht“, sagt Tobias. Und im Prinzip hat er recht. Erst haben wir die Gruppe – etwa vier Männer und eine Frau – von den Mülltonnen zur Einfahrt gescheucht, dann wieder zurück. Dann hat sich die Gruppe aufgeteilt: Ein paar sitzen bei den Mülltonnen, wo noch etwas Platz frei ist,  und ein paar in der Einfahrt. Aber da  parkt auch unser Auto, und auch da beschweren sich Nachbarn, weil das so massiv wirkt, wenn da ein paar Leute „lagern“. „Wo sollen wir denn hin?“, fragt Tobias aggressiv.

Genau das macht uns doch selbst so  sauer: Wir wissen es auch nicht! Wohin sollen wir sie denn schicken? Es gibt ­keine Plätze, an denen Obdachlose ­erwünscht sind. Und wir, die wir immer eine Lobby für „unsere Leute“ sein wollen, sind ratlos. Mit dieser Ratlosigkeit stehen wir nicht allein da, die ganze Obdachlosenhilfe ist momentan hilflos. Einem Obdachlosen zu helfen, ist für Sozialarbeiter schwierig. Eine Wohnung – das ist die Ausnahme, fast wie ein Sechser im Lotto. Neulich hat ein Obdachloser unseren Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer gefragt: „Mit welchem Recht verdient ihr eigentlich noch Geld?“

Stephan konnte diese Anmache sogar verstehen. „Wir können Leuten helfen, einen Antrag auf Hartz IV zu stellen, in die Krankenkasse einzutreten, aber das Grundlegende, das ein Mensch braucht, ein Dach über dem Kopf, das können wir nicht vermitteln.“ Das Wissen um diese derzeitige Chancenlosigkeit führt zu noch mehr Spannungen. Die Nerven liegen noch blanker, der Neid wird noch größer. Neid auf Menschen, die auch nichts haben, aber um die man sich scheinbar  momentan mehr kümmert.

Bei vielen Obdachlosen, auch bei Tobias, sind dann „die Rumänen“ fällig, „die Flüchtlinge“, die alles „hintenrein“ gestopft kriegen. Sprüche dieser Art tragen bei uns im Team nicht gerade zur Entspannung bei. Schließlich haben wir auch rumänische Verkäufer und wir wollen nicht, dass auf Flüchtlingen herumgehackt wird.

Spannungen bauen sich jetzt sogar zwischen Tobias und seinem langjährigen Kumpel Dennis auf. Monatelang haben Tobias, Diego, Dennis und Ronny zusammen Platte gemacht. Dennis hat inzwischen einen Job bei uns und  einen der berühmten Sechser im Lotto gezogen: Er hat jetzt eine Wohnung. Aus einem traurigen Grund: Dennis konnte die Wohnung unseres verstorbenen Stadtführers Peter übernehmen.

Jetzt ist Tobias auch noch sauer auf uns, weil wir Dennis geholfen haben – und Ronny nicht. Ronny hat inzwischen wieder einen Job, aber keine Wohnung. Jeden Morgen muss er um 6 Uhr aufstehen. „Und was wird aus Ronny? Dem helft ihr nicht“, sagt Tobias aufgebracht. „Dem habt ihr klipp und klar gesagt: ‚Dir helfen wir nicht.‘“ Natürlich haben wir das nicht gesagt. Sondern: „Wir KÖNNEN dir nicht helfen.“ Von seiner eigenen Enttäuschung  redet Tobias erst gar nicht. Der 25-Jährige ist es sowieso gewohnt, für sich allein zu sorgen. Seit er zwölf Jahre alt ist, lebt er immer wieder auf der Platte. „Ich brauche niemanden“, sagt Tobias deswegen. Niemanden außer Diego. Seinetwegen hat er aufgehört, harte Drogen zu nehmen – und er trinkt auch nicht mehr viel. „Das mag Diego nicht“, sagt Tobias.

Natürlich macht es Tobias trotzdem etwas aus, dass Dennis jetzt die gemeinsame Platte verlässt. Und es schwingt bei ihm die diffuse Angst mit, dass Dennis auf die Idee kommen könnte, Diego mit in die Wohnung zu nehmen, „weil er es da besser hat als auf der Straße“. Aber das würde dann wirklich Stress ­geben, stellt Tobias klar.

Zwei Tage später ist unser Innenhof noch enger geworden. Unser Vermieter hat den kleinen Platz neben den Mülltonnen mit einem Zaun versehen – um die Nachbarn zu schonen. Ob es hilft? Jetzt ist die Einfahrt wieder blockiert. Und es hat einen Riesenkrach zwischen uns und Tobias gegeben. Tobias, Diego und Gepäck sollten zur Seite rücken, damit das Hinz&Kunzt-Auto besser parken kann. Tobias hat sich geweigert, von dort auch noch vertrieben zu werden – und hat uns seinen Hinz&Kunzt-Ausweis vor die Füße geknallt. Geblieben ist er trotzdem. „Nur, weil ich hier meine Leute treffe“, sagt er trotzig.

Neulich bin ich wieder raus. Wieder kläffte ein Hund, und es war „natürlich“ Diego. Ich sah noch, dass Tobias sich bemühte, den Hund zu beruhigen. Ohne Erfolg. „Alles okay?“, fragte ich. Zugegeben eine blöde Frage, wenn man sieht, dass gerade nichts okay ist. Aber Tobias fühlte sich diesmal nicht angegriffen. „Ich komm mit Diego nicht mehr klar“, sagte er erschüttert. „Er hört nicht mehr auf mich. Höchstens noch auf ‚Sitz!‘“

Ich war so baff, dass Tobias mir das  anvertraute, dass ich – natürlich mit ­seinem Einverständnis – Hundetrainer Martin Kath anrief. Er kam sofort. Diagnose: „Tobias, dein Hund steht unter Stress. Der merkt, dass du angespannt und aggressiv bist, und das irritiert ihn, dann ist er auch angespannt und aggressiv. Außerdem muss Diego immer auf den Rucksack aufpassen und er denkt, das alles hier ist eigentlich sein Terrain“, sagt Martin. „Er merkt nicht mehr, dass du der Rudelführer bist, der sagt, wo es langgeht.“

Eine Stunde und ein paar praktische Übungen später schlägt Martin vor: „Bleib einfach mal ein paar Tage weg, damit sich Diego entspannen kann.“ Tobias, der sonst gerne mal cool rüberkommt, bedankt sich für seine Verhältnisse fast überschwänglich. Am nächsten Tag ist er allerdings wieder da, mit Sack und Pack – und mit Diego. Diego bellt. Im ersten Moment bin ich genervt. Dann geh ich raus und begrüße die beiden. Wo sollen sie auch hin?

Ist sehr erschöpft: Mujib

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Bei seiner Flucht von Afghanistan nach Deutschland überquerte er zehn Ländergrenzen. Seine Mutter schickte ihn los, damit er nicht den Taliban in die Hände fällt.

Mujib schläft schlecht: Jede Nacht wacht der 16-Jährige auf und grübelt. Darüber, wie es mit ihm weitergehen soll. „Thinking, thinking, thinking …“, sagt der aus Afghanistan stammende Junge in gebrochenem Englisch und vergräbt das Gesicht in seinen schmalen Händen. Hinter ihm liegt eine kräftezehrende achtmonatige Flucht über zehn Ländergrenzen. Allein. Seine Mutter hatte panische Angst, dass die Taliban ihren Sohn als Selbstmordattentäter benutzen würden. Sie wollte ihr Kind nicht sterben sehen.

Laut Genfer Flüchtlingskonvention sind minderjährige unbegleitete Flüchtlinge „besonders schutzbedürftig“. Doch die Mitarbeiter des zuständigen Hamburger Kinder- und Jugendnotdienstes (KJND) mustern Mujib nur kurz. Dann schicken sie ihn wieder weg. Er sei keine 16 Jahre alt, sondern volljährig. Die Grundlage: reiner Augenschein. Der KJND hat für solche Fälle Formulare, in denen „postpubertäre Merkmale“ angekreuzt werden können: „starker Bartwuchs“ etwa oder „souveränes Auftreten“. Sind genug Kreuze beisammen, wird die sogenannte Inobhutnahme abgelehnt. Öffentlich wird der Fall zuerst durch einen „Panorama“-Bericht der Journalistin Pia-Luisa Lenz.

Mujib versteht das alles nicht. Er weiß nicht, wohin er gehen soll. Zwei Nächte schläft er auf der Straße. Die Sozialbehörde sagt, niemand werde weggeschickt, ohne einen „Hinweis“, dass er sich bei einer Flüchtlingsorganisation oder religiösen Gemeinschaft beraten lassen kann. Die Gemeinden selbst wissen von dieser Empfehlung jedoch nichts, so die „taz“. Auch bei der kirchlichen Beratungsstelle Fluchtpunkt herrscht blankes Entsetzen (siehe Interview Seite 28).

Mujib landet schließlich dort, weil ihm jemand die Adresse auf einen Zettel schreibt. Fluchtpunkt wendet sich an die Pastorin Dietlind Jochims, die kurz darauf neue Flüchtlingsbeauftragte der Nordkirche wird. Sie will Mujib für ein paar Tage bei sich aufnehmen. Es werden sechs Monate daraus. Heute ist die 50-Jährige sein Vormund. Die Menschlichkeit einer Gesellschaft lasse sich auch daran bemessen, wie sie mit Flüchtlingen umgeht, sagt Dietlind Jochims.

Obwohl schon lange bekannt ist, wie sich die Flüchtlingszahlen entwickeln, haben Politik und Behörden viel zu lange gebraucht, um neue Unterkünfte zu öffnen. Bis die Bilder von überfüllten Erstaufnahmestellen, und Menschen, die in Zelten hausen, nicht mehr kleinzureden waren. „Es rächt sich jetzt, dass man sich auf der Annahme ausgeruht hat, dass es schon nicht so viele Flüchtlinge werden würden“, sagt Dietlind Jochims. 4000 Plätze müssen bis Jahresende bereitgestellt werden. Mindestens 1500 fehlen noch. „Ich bin keine Politikerin, aber eine reiche Stadt wie Hamburg muss diese Zahlen verkraften können“, sagt die Flüchtlingsbeauftragte.

Mujib kennt diese Zahlen nicht. Er könnte sie sich ohnehin nicht merken: „I can’t concentrate“, sagt er. Sobald das Gespräch auf seine Flucht kommt, sinkt er in sich zusammen. Man merkt, wie anstrengend es für ihn ist, immer wieder mit den schmerzhaften Erfahrungen konfrontiert zu werden.

Ein halbes Jahr lang tat er alles, um den Hamburger Behörden zu beweisen, dass er tatsächlich 16 Jahre alt ist. Er legt eine Kopie seiner afghanischen Geburtsurkunde vor. Das Original hatten ihm griechische Grenzbeamte abgenommen. Die Kopie wird nicht anerkannt. Er legt einen in Norwegen ausgestellten Asylbewerberausweis vor. Auch der wird nicht anerkannt. Die Behörden verlangen einen afghanischen Pass. Tatsächlich stellt ihm die afghanische Botschaft diesen nach beharrlichem Intervenieren von Fluchtpunkt aus. Doch plötzlich hat der KJND kein Interesse mehr daran. Dietlind Jochims: „Es hieß dann, dass ‚der Wahrheitsgehalt afghanischer Personenstandsdokumente generell zweifelhaft ist‘.“

Bei einer umstrittenen Knochenalter-Untersuchung im UKE stellt sich schließlich heraus: Mujib ist nicht volljährig. Nichts anderes hatte er stets gesagt. In einer irrwitzig anmutenden Aktion datierten die Ärzte sein Geburtsdatum jedoch um zwei Monate vor, erzählt Dietlind Jochims. Er habe jetzt im August statt im Oktober Geburtstag. Aber: Er wird endlich als minderjährig anerkannt. Bis zu seinem 18. Geburtstag muss er nun keine Abschiebung fürchten. Das Dokument, auf dem seine Hoffnungen nun ruhen, heißt „Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender“ – und ist keine Aufenthaltserlaubnis, nur ein Nachweis, dass er sich nicht illegal in Deutschland aufhält.

Obwohl Mujib mittlerweile in einer Jugendwohnung in Hamm lebt, fühlt er sich einsam. „I cry every night.“ Er hat 15 Kilo abgenommen, seitdem er hier ist. „I feel sick, not normal, not like I was“, sagt er. Immerhin: Er geht zur Schule. Erste Schritte. „Was aber passiert denn mit denen, die nicht das Glück im Unglück haben, die Menschen zu finden, die sie begleiten?“, fragt Dietlind Jochims. Mujibs Fall ist kein Einzelschicksal. Die Sozialbehörde rechnet damit, dass bis Jahresende mindestens 720 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in Hamburg aufgenommen werden.

Hat Mujib Zukunftspläne? Er schüttelt langsam den Kopf. „I don’t know if I can stay here.“ Nur als es um Fußball geht, hellt sich sein Gesicht auf. Kürzlich hat ihn eine Nachbarin zu einem Spiel des FC St. Pauli mitgenommen. Mujibs Traum: später einmal selbst als Profi auf dem Platz stehen. Zuerst aber muss er überhaupt einen sicheren Platz zum Leben finden.

Text: Birgit Müller, Simone Deckner
Foto: Mauricio Bustamante