Premiere im Hinz&Kunzt-Haus: Die Kochgruppe hat zur Weihnachtszeit gemeinsam Plätzchen gebacken und ein Lebkuchenhaus gebaut – bei dem die Tür immer offen steht.
„Nu geiht dat los!“ Der große, schlanke Hinz&Künztler Ralf steht mit einem Nudelholz in der Hand wie zum Kampf bereit. Vor ihm auf dem Tisch liegen Eier, Mehl, Zucker, Ausstechformen und zwei Lebkuchenhaus-Baukästen. Nicole steht neben ihm und rückt das Rentiergeweih zurecht, das sie auf dem Kopf trägt. Derweil herrscht in der Küche des Hinz&Kunzt-Hauses Hochbetrieb: Mitarbeiterinnen geben Lebensmittel der Tafel aus und viele Verkäufer:innen holen sich anschließend noch einen Kaffee und bleiben auf einen Schnack oder zwei. Warum Ralf eine Weihnachtsmütze trägt und was er mit dem Nudelholz vorhat, wollen viele wissen. „Weihnachtsplätzchen und ein Lebkuchenhaus werden das. Eine echte Premiere!“, erklärt Ralf, der Mitglied der Hinz&Kunzt-Kochgruppe ist.
Die Kochgruppe besteht aus einem festen Kern von fünf bis zehn Leuten. Der großen Backpremiere widmen sich heute allerdings nur zwei von ihnen: Ralf und Nicole. Die anderen liegen flach oder sind anderweitig verplant. Auch Vertriebsmitarbeiter Gabor und Stadtrundgänger Chris können nicht dabei sein. Sie haben die Gruppe vor zwei Jahren ins Leben gerufen. „Für uns geht Gemeinschaft durch den Magen“, sagt Gabor einige Tage später. Als nach dem Ende der Coronapandemie das Hinz&Kunzt-Haus wie leergefegt wirkte, kam ihnen die Idee für die Kochgruppe: „Wir wollten wieder Leben in die Bude bringen.“ Seitdem kochen sie einmal im Monat für sich und an jedem ersten Magazin-Verkaufstag für rund 200 Hinz&Künztler:innen. Die Organisation sei chaotisch, aber irgendwie klappe am Ende immer alles.
Hinz&Künztlerin Nicole kennt Chris und Gabor schon lange. Die beiden haben sie vor einem Jahr überredet mitzumachen, weil sie wussten, dass Nicole nicht kochen kann. „Ich habe das nie gelernt“, sagt die rothaarige Frau achselzuckend. Das will sie nachholen, und zwar am liebsten in guter Gesellschaft. „Ist auch eine tolle Abwechslung zum Zeitungsverkauf“, sagt sie. Plätzchen hat die 45-Jährige noch nie gebacken. Für Weihnachten sei sie sowieso nicht so zu haben. In ihrer Kindheit sei dieses Fest nicht gefeiert worden. Deswegen habe sie sich nie viel aus Weihnachten gemacht. Wie die Feiertage dieses Jahr bei ihr aussehen? „Auf der Couch vor dem Fernseher mit meinem Freund. Das war’s. So geht das schnell rum.“ Früher, als Nicole obdachlos war, wurde sie an Weihnachten von Ehrenamtlichen beschenkt. Einmal habe sie ein Päckchen bekommen mit Schokolade und Wodka: „Das war was.“ Ralf nickt zustimmend. Auch er kann sich an Weihnachten auf der Straße erinnern. Möchte aber lieber nicht weiter darüber nachdenken.
Während Ralf sich dem Keksteig widmet, beginnt Nicole mit dem Lebkuchenhaus. Da es das Titelbild der H&K-Dezemberausgabe schmücken soll, muss es besonders schön werden. Nicole hält sich strikt an die Anleitung. Dafür wird zuerst Eiweiß steif geschlagen und mit Puderzucker verdickt. „Das soll jetzt Kleber sein?“ Nicole guckt skeptisch, während die Masse von ihrem Pinsel tropft. Im nächsten Schritt muss die Tür ausgeschnitten werden. Das übernimmt Ralf mit zitternden Händen. Triumphierend hält er anschließend die Tür hoch – und steckt sie schnell in den Mund. „Nein! Die brauchen wir noch!“ Nicole schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Die Tür hätte an die Vorderseite des Hauses geklebt werden sollen. „Oh, na ja. So haben wir Tag der offenen Tür“, sagt Ralf und kaut genüsslich. „So ein Häuschen mit ständig offener Tür wünscht sich doch jeder. Das ist wie das Hinz&Kunzt-Haus, wo alle immer hinkommen können.“ Das besänftigt Nicole. Sie nickt und verbindet mithilfe des Zuckergusses die Wände des Häuschens. Immer wieder kommen Hinz&Künztler:innen vorbei, begutachten das Werk und verzieren die Hauswände selbst mit kleinen Brezeln oder Weingummi. Dass das kleine Gebäude keine Tür hat, betonen Ralf und Nicole dann besonders: ist natürlich geplant gewesen.
Die Eiszapfen am Dach wollen Nicole nicht gelingen. Hinz&Künztlerin Doro kann das nicht mit ansehen. „Das soll doch nicht aussehen wie ein Plattenbau!“ Doro stellt ihren Kaffee ab und verschafft sich einen Überblick über die Lage. „Ihr habt das Ei zu lange geschlagen. Der Kleber ist nicht mehr fest“, sagt sie. Woher sie so viel Ahnung vom Backen hat? „Hab ich bei Omma gelernt.“ Kurzerhand dreht sie das Haus auf die Seite und beginnt mithilfe des Klebers, Eiszapfen an das Dach zu zaubern. Ihre Hände mit den bunt bemalten Fingernägeln arbeiten ruhig und genau. „Hab Garten- und Landschaftsbau gelernt. Ich liebe das, mit den Händen zu arbeiten“, sagt die 40-Jährige.
Nach einer Weile ist sie zufrieden mit ihrem Kunstwerk: „So, nicht anfassen, trocknen lassen“, sagt sie und widmet sich wieder ihrem Kaffee. Ab dem nächsten Treffen will sie sich der Kochgruppe anschließen.
Derweil hat Ralf die Zutaten für den Keksteig zusammengemischt. Beim Kneten müssen dann alle mal ran. „Das ist anstrengend, das kann ich nicht mehr so gut. Steh schließlich schon kurz vor der Rente.“ Ralf grinst und lässt sich erschöpft auf einen Stuhl fallen. Die Krankenakte des 57-Jährigen ist lang: Bei seiner Arbeit als Bühnen- und Messebauer sind ihm erst die Knie und später der Rücken kaputtgegangen. Seit einem Schlaganfall zittern seine Hände. Auch einen Bandscheibenvorfall hat er hinter sich. Richtig erholen konnte er sich nie. Zwischen 2003 und 2004 war er obdachlos. Seitdem ist er bei Hinz&Kunzt. „Das hat mir Stabilität gebracht“, sagt er und zeigt auf die Menschen um ihn herum. Schon lange hat er wieder eine Wohnung. „Aber letzten Monat, da stand ich wieder mit einem Bein in der Obdachlosigkeit. Mann, hatte ich ein Schwein.“ Das Jobcenter habe seine Anträge nicht rechtzeitig bearbeitet. Es sei aber alles gut gegangen. Die Kochgruppe lenke ihn ab von seinen Sorgen: „Bringt mir einen riesigen Spaß.“
„Hilfe, das Haus stürzt ein!“, ruft ein Hinz&Künztler. Doros Eiszapfen haben die Vorderseite des Lebkuchenhauses zum Einsturz gebracht, weil sie zu schwer waren. „Nun sieht’s aus, als hätte es einen Schneesturm hinter sich“, stellt Ralf fest. Nicoles Augen weiten sich. Sie sieht das Titelbild in Gefahr. Gut, dass für den Notfall vorgesorgt ist und noch ein zweiter Baukasten für ein weiteres Häuschen bereitsteht. Behutsam packt Nicole die Bauteile aus und steckt sie zusammen: „Wie toll, bei diesem Häuschen steht die Tür schon offen“, stellt sie fest. „Tja, Ralf, du kannst sie nicht wieder aufessen.“ Der grinst und schiebt zwei Bleche in den Ofen. „Nachher gibt’s ja noch genügend Kekse.“