Meine Geschichte

Ein halbes Leben auf der Straße

"Die Obdachlosigkeit bleibt in mir drinnen“, sagt Dieter. Sein Anker war und ist Hinz&Kunzt. Foto: Dmitrij Leltschuk

30 Jahre auf der Straße. Mehr als 20 Jahre davon als Hinz&Kunzt-Verkäufer. Aber mit dem Eintritt ins Rentenalter hat Dieter es schließlich doch noch in eine Wohnung geschafft.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Es war ein Freitagnachmittag, als Dieters Leben auf der Straße endete. Schwankend und auf klapprigen Beinen schob sich der damals 64-Jährige mühsam von draußen in den Hinz&Kunzt-Vertriebsraum. Mitarbeiter erkannten die Gefahr, stützten den Obdachlosen und setzten ihn auf einen Stuhl. Umgehend riefen sie den Rettungsdienst. Im Krankenhaus diagnostizierten Ärzt:innen eine Herzinsuffizienz und verordneten ihm Ruhe. Einem Obdachlosen. Wo sollte der Ruhe finden? Für Menschen wie Dieter geht es in der Regel vom Krankenhaus zurück auf die Straße. Aber Dieter hatte das Glück, Hinz&Kunzt-Verkäufer zu sein. Sozialarbeiterin Isabel Kohler vermittelte den gebrechlichen Mann in die Caritas-Krankenstube. Nachdem er dort aufgepäppelt worden war, kam er in einer Kirchenkate unter und fand schließlich durch die Unterstützung von Hinz&Kunzt einen Platz im Seniorenwohnpark Rothenburgstraße, in dem er noch heute lebt.

Ende des Jahres wird Dieter 72 Jahre alt. Das Leben auf der Straße hat er hinter sich gelassen. Auch Hinz&Kunzt verkauft er inzwischen nicht mehr. Er könne nicht mehr so lange stehen, sagt er. Dieter geht am Rollator. Er ist kurz­atmig und auch beim Reden lässt sich der hagere Mann manchmal Zeit. 30 Jahre habe er draußen geschlafen, erzählt Dieter. Wenn auch mit Unterbrechungen. Und seit mehr als 50 Jahren ist er alkoholkrank. „Ich trinke zwar noch ein, zwei Bier, aber nicht mehr wie früher bis zur Besinnungslosigkeit“, sagt Dieter.

Führt man sich sein Leben vor Augen, hat Dieter längst ein biblisches Alter erreicht. Laut einer Studie werden
Obdachlose in Hamburg im Schnitt nur 49 Jahre alt. „Ich hänge an meinem Leben“, sagt Dieter und Sozialarbeiterin Kohler pflichtet ihm bei. Dieter sei ein Stehaufmännchen. Seit er vor rund 25 Jahren nach Hamburg kam und Hinz&Kunzt-Verkäufer wurde, landete er mehrfach im Krankenhaus. Aber immer wieder kam Dieter auf die Beine.

Die Probleme in seinem Leben begannen früh. „Ich habe es schon als Kind nicht mehr zu Hause ausgehalten“, sagt Dieter, der aus Braunschweig stammt. Immer wieder nahm er Reißaus. Warum, darüber spricht Dieter nicht. Stattdessen erzählt er, wie er nach der achten Klasse die Schule verließ und eine Ausbildung bei der Bundesbahn anfing. Nach nur anderthalb Jahren hing er die jedoch an den Nagel. Anschließend jobbte er eine Weile auf dem Bau. Schon damals sein ständiger Wegbegleiter: der Alkohol.

Vor knapp 50 Jahren brach Dieter den Kontakt zu seinen Eltern schließlich endgültig ab. Es zog ihn nach Süddeutschland. Er nimmt seine Kappe vom Kopf, hält sie vor sich. „Das erste Mal so betteln war seltsam“, erinnert sich Dieter. Aber in seiner Mütze landete mehr Geld als gedacht. Fortan lebte er auf der Straße. Dieter kramt lange in seinem Gedächtnis. Dann listet er unzählige Dörfer und Städte auf, in denen er manchmal nur Tage, manchmal auch Jahre verbrachte – gelegentlich auch mal in einem Männerwohnheim.

Für einige Jahre lebte er mit einer Frau zusammen. Später und auch zuvor teilte er seinen Schlafplatz mit
anderen Obdachlosen. Sie wurden zu Freunden. Seinen Schlafplatz in Hamburg wechselte er kaum. Erst schlief er unter der Kennedybrücke, später vor dem Hintereingang von Karstadt in der City. Aber sich an andere richtig zu binden, das war nie Dieters Ding. Noch heute, in seinem Altersheim, fällt ihm manchmal die Decke auf den Kopf, erzählt er. Dann fährt er sich mit der rechten Hand nachdenklich durch sein schlohweißes Haar und sagt: „Ich sehne mich nach der Straße. Aber es geht nicht mehr.“ Während andere Obdachlose von einer Wohnung ­träumen, hatte Dieter sich mit der Obdachlosigkeit längst abge­funden. Sie war über Jahrzehnte sein Alltag. „Und das bleibt in mir drinnen“, sagt Dieter. Etwas verklärend schiebt er hinterher: „Das war meine Freiheit.“

Obwohl er diese Freiheit hinter sich lassen musste: Seinen Anker fand er schon vor 25 Jahren in Hamburg.
Damals erhielt er seinen ersten Hinz&Kunzt-Ausweis. Und noch heute trifft man ihn regelmäßig im Vertriebsraum an. Er trinkt seinen Kaffee, klönt mit Mitarbeiter:innen und Verkäufer:innen, die er noch aus gemeinsamen Zeiten auf der Straße oder durch den Magazinverkauf kennt. Manchmal sitzt er aber auch nur ruhig an einem der Tische und schaut dem Treiben zu. Er wirkt dann nicht verloren, sondern eher wie jemand, der nach einer langen Reise zu Hause angekommen ist. 

Artikel aus der Ausgabe:

Happy Birthday: Die Hinz&Kunzt-Geburtstagssause

30 Jahre Hinz&Kunzt! In unserer neuen Ausgabe präsentieren wir das ausführliche Geburtstagsprogramm, schöne Erfolgsgeschichten und legen zugleich den Finger in die Wunde, weil in Hamburg nach 30 Jahren Hinz&Kunzt weiterhin etwa 2000 Menschen auf der Straße leben.

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Autor:in
Jonas Füllner
Jonas Füllner
Seit 2013 bei Hinz&Kunzt - erst als Volontär und inzwischen als angestellter Redakteur.

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