Es geht ums Überleben: Mitten in der Wirtschaftskrise ist Griechenlands erste Straßenzeitung erschienen. Shedia ist ein Rettungsanker für viele Menschen, die in Not geraten sind.
(aus Hinz&Kunzt 246/August 2013)
„Wir bekommen Anrufe aus ganz Griechenland, von Menschen, die seit ein, zwei, drei oder vier Jahren ohne Arbeit sind.“ Chris Alefantis ist erschöpft. Aber die Mühe der vergangenen Wochen hat sich gelohnt. Shedia (übersetzt: das Floß) ist Griechenlands erste Straßenzeitung. Seit wenigen Wochen wird sie in Athen angeboten. Jetzt stehen die Menschen Schlange, weil sie das Blatt verkaufen wollen. „Auf der einen Seite ist das wirklich traurig. Auf der anderen Seite fühlt es sich toll an, in der Lage zu sein, Menschen in Not eine Chance bieten zu können“, so Alefantis, Journalist und Mitgründer von Shedia.
Tatsächlich ist die Straßenzeitung für viele ein Rettungsanker. Denn die Griechen erleben derzeit nicht nur eine dramatische Wirtschaftskrise, sondern auch eine soziale Katastrophe. Es geht ums Überleben: Griechenlands Sozialsystem ist kollabiert. Mehr als ein Viertel der Griechen ist offiziell arbeitslos, höchstens zwölf Monate gibt es ein pauschales Arbeitslosengeld von 359 Euro, unabhängig vom vorherigen Verdienst. Das reicht oft nicht einmal mehr für die Miete – und danach gibt es nichts. Offiziell 30, nach Schätzungen aber 50 Prozent der Griechen sind nicht mehr krankenversichert. Nach Job und Krankenversicherung haben viele auch ihre Wohnung verloren. „Neo Astegos“ – die neuen Obdachlosen werden sie genannt. Allein 20.000 sind es in Athen.
Das Land der Arbeitslosen war bisher die europäische Volkswirtschaft mit der längsten Wochenarbeitszeit. Jetzt, so Chris Alefantis, sehe man „überall in der Stadt Menschen, die resigniert haben, die besiegt scheinen. Das Schlimmste an der Wirtschaftskrise und der Art, wie die politische Elite mit ihr umgeht, ist, dass die Menschen die Hoffnung verloren haben. Und es gibt kein Licht am Ende des Tunnels.“
Ähnlich beschreibt es auch Polymnia K. Die Deutschgriechin wurde 1966 in Werdohl geboren und zog 2002 als freie Übersetzerin nach Athen. „Im Vorfeld der Olympiade 2004 boomte alles und es wurde offiziell Wachstum verzeichnet“, sagt sie. „Ob das so korrekt war, weiß man natürlich rückblickend nicht. Nach der Olympiade setzte schleichend die Krise ein, die dann 2008 offiziell benannt wurde.“
„Die, die in Griechenland bleiben, kommen sich vor wie Verlierer“
Sie erlebte den freien Fall der griechischen Wirtschaft. Inzwischen sind bei den unter 25-Jährigen diejenigen, die noch Arbeit haben, in der Minderheit. Schon vor der Krise war die „Generation 700 Euro“ entstanden, nun gibt es oft nicht einmal mehr schlecht bezahlte Jobs. „Fast alle meine Verwandten und Bekannten sind arbeitslos“, sagt Polymnia. Seit 2011 ist sie zurück in Dortmund. „Als ich wieder in Deutschland war, merkte ich auf einmal, dass es ja auch glückliche Menschen gibt. Auf den Straßen in Athen stehen Händler vor ihren leeren Geschäften, und du schaust den ganzen Tag in traurige, frustrierte Gesichter.“ Ein Volk in der Depression.
Die Dramatik der Lage scheint hierzulande nicht wirklich wahrgenommen zu werden. Hunderttausende sind auf Suppenküchen und Lebensmittelspenden angewiesen. In den Buchläden, die es noch gibt, liegt ein Ratgeber der Historikerin Eleni Nikolaidou, die Zeitungen aus der leidvollen NS-Besatzungszeit von 1941 bis 1944 nach Kochrezepten und Tipps durchsucht hat: „Die Rezepte des Hungers“. „Den Leuten, die schon auf der Straße sitzen, denen kannst du nicht erzählen, dass sie sparen müssen, weil es sonst noch schlimmer kommt. Wie schlimm soll es denn noch kommen?“, fragt Polymnia.
Für die freiberufliche Übersetzerin änderten sich die Aufträge: „Im Moment übersetze ich viele Lebensläufe von Leuten, die weg aus Griechenland wollen. Meist junge Leute mit vielen Qualifikationen. Ingenieure, Ärzte, Lehrer.“
Auch Polymnias Familie lebt inzwischen wieder in Deutschland. Polymnias Schwester verlor 2011 den Job, in dem sie 13 Jahre gearbeitet hatte. Ihre Mutter hat einen Großteil ihrer Ersparnisse beim Schuldenschnitt eingebüßt; sie hatte wie viele ihr Geld in Staatsanleihen angelegt. „Im Moment ist sie gleichzeitig sehr froh, aus Griechenland weg zu sein, aber natürlich auch sehr traurig“, fasst Polymnia die Stimmung zusammen. „Meine Schwester fühlt sich sehr fremd hier in Deutschland. Man schämt sich für das Elend, das man ja als Bürger auch mit verursacht hat. Man hat die korrupten Leute ja gewählt und nicht rechtzeitig dagegengearbeitet und fühlt sich als Außenseiter.“
Doch ist die Lage der vielen, die gegangen sind, besser als die der Daheimgebliebenen: „Die, die dableiben, kommen sich vor wie Verlierer“, sagt Polymnia. „Wem es an Sprachkenntnissen fehlt oder wer keine Anlaufstelle hat, der bleibt halt oft da. Schwierig ist es für die Mittelschicht. Wenn du nichts Spezielles kannst, was gefragt ist, dann weißt du ganz genau, dass dir ein Abstieg bevorsteht.“
Text: Bastian Püttner
Quelle: www.street-papers.org, Bodo-Germany