Das Gelände ist planiert, nun wird gebaut: In Altonas Mitte entstehen 3600 neue Wohnungen. Gedacht für Junge und Alte, für Singles und Familien, für Menschen mit Handicap. Inklusion heißt das Zauberwort.
(aus Hinz&Kunzt 260/Oktober 2014)
Es ist knapp 20 Jahre her, da suchten wir eine Wohnung und erhielten von unserer Baugenossenschaft ein interessantes Angebot: Man wollte einmal gemeinsam mit Mietern mitten in Altona ein Haus planen, wollte deren Wünsche an Grundriss und Ausstattung ausdrücklich berücksichtigen.
Natürlich gingen wir zu dem ersten Vorbereitungstreffen. Saßen zwischen anderen, vielleicht zukünftigen Mietern, vor Kaffee und Kuchen, während vor uns zwei wichtige Männer aus unserer Baugenossenschaft und eine Architektin im schicken Kostüm sehr aufgeregt von ihrem Projekt berichteten: Küche und Wohnzimmer getrennt oder eine ineinander übergehende Wohnküche? Ein großes Badezimmer oder lieber ein kleineres, dafür zusätzlich eine Gästetoilette? Empfindlicher, heller Parkettboden, wenn die Kinder aus dem Haus seien, oder belastbares Linoleum, wenn sie noch durch die Wohnung tobten – das alles sollten wir mitentscheiden. Wir: Das waren Familien, Paare, Alleinstehende, Ältere, eine Handvoll Studenten – und ein Mann im Rollstuhl. Der ergriff sehr schnell das Wort. Erzählte, was für eine Rollstuhlrampe er braucht, welche Türbreiten und – wurde unterbrochen. Man verstehe durchaus seine Situation, hieß es von vorn, aber für Menschen wie ihn sei dieses Hausprojekt leider nicht gedacht. Es werde schon kompliziert genug, all die Wünsche der künftigen Mieter unter einem Dach zu realisieren, es sei eben nicht alles auf einmal möglich.
Niemand sprang ihm bei. Der Mann rollte wortlos von dannen, die Architektin pinnte eine erste Bauzeichnung an die Stellwand, wir machten uns über Kaffee und Kuchen her und bald herrschte wieder gute Stimmung. 20 Jahre später soll in Altona nicht nur ein einzelnes Haus geplant und gebaut werden, sondern ein ganzer Stadtteil: in Altonas neuer Mitte, dem Bahnareal zwischen dem Altonaer Bahnhof und der Stresemannstraße im Norden. Im ersten Schritt sollen hier im kommenden Jahr 1600 Wohnungen gebaut werden; im zweiten Schritt, wenn der bisherige Fernbahnhof Altona 2023 an den S-Bahnhof Diebsteich verlegt worden ist, kommen 2000 Wohnungen dazu.
Dass dieser neue Stadtteil womöglich ein besonderes Modellprojekt werden wird, ist dem Quartierentwicklungsprojekt „Q8“ zu verdanken, das zur Evangelischen Stiftung Alsterdorf gehört. Denn diese engagiert sich seit Längerem auf dem weiten Feld der Stadtentwicklung. Warum das so ist, erläutert Karen Haubenreisser, eine der Projektleiterinnen von „Q8“ anhand zweier Stadtpläne von Hamburg: Der eine, noch aus den 80er-Jahren, zeigt einen großen, roten Punkt – damals gab es in Alsterdorf so etwas wie einen Stadtteil im Stadtteil, auch getragen von der Vorstellung, dass Menschen mit Behinderungen besonders schutzbedürftig seien und das normale Stadtleben ihnen daher nicht zuzumuten wäre. Der zweite Stadtplan aus unseren Tagen dagegen zeigt Hamburg übersät mit roten Punkten: „Die Menschen wohnen heute über die ganze Stadt verteilt, mal in einzelne Wohnungen, mal in Wohngemeinschaften“, sagt Haubenreisser. Und in diese Richtung soll es in den nächsten Jahren weiterge- hen: Weg von der stationären Betreuung hin zu einem Wohnen in ganz normaler Nachbarschaft im Stadtteil.
Kein Wunder, dass „Q8“ sich für Altonas Neue Mitte interessiert, ergibt sich doch hier die einmalig-einzigartige Chance, einen Stadtteil von Grund auf neu zu planen. Von null auf hundert, sozusagen. Und so hat „Q8“ im Frühjahr 2012 das „Forum Eine Mitte für Alle“ initiiert und bisher 16 abendfüllende Gesprächsrunden durchgeführt. An denen nahmen skeptische Anwohner und interessierte Bauherren ebenso teil wie Stadtplaner, Baugemeinschaften, Vertreter von Kirchen, der Politik und nicht zuletzt Abge- sandte der Verwaltung. Schnell lag ein sorgsam ausgearbeiteter Katalog mit Empfehlungen auf dem Tisch: Der neue Stadtteil soll nicht nur weitgehend autofrei und ökologisch nachhaltig gestaltet sein, er soll möglichst unterschiedlichsten Menschen eine neue Heimat bieten. Oder wie es die Präambel des Forums knackig formuliert: „Zukunftsfähigkeit von Stadtteilen bemisst sich vor allem daran, ob alle Menschen eines Quartiers selbstverständlich dazugehören und niemand ausgeschlossen wird, ob jeder Mensch die Möglichkeit erhält, vollständig und gleichberechtigt am Leben teilzunehmen.“ Ob das umgesetzt werden kann?
Immerhin: Im Sommer dieses Jahres unterschrieben die Stadt Hamburg und die Eigentümer der künftigen Flächen und Gebäude, zu denen etwa der Großimmobilienkonzern ECE gehört, den sogenannten städtebaulichen Vertrag, in den viele Ideen aus den Forumsgesprächen eingeflossen sind. So sieht der Vertrag vor, dass fünf bis zehn Prozent der für Wohnungen vorgesehenen Flächen Integrationsprojekten vorbehalten sein sollen. Darüber hinaus heißt es: Die Eigentümer „streben an, möglichst viele Wohneinheiten barrierefrei oder barrierearm zu gestalten“. Weitergehende Anregungen, wie die dass die im Quartier entstehende, neue normale Stadtteilschule ausdrücklich als inklusives Bildungszentrum auszubauen sei und dass auch die geplante Kita inklusiv sein soll, wurden nicht aufgenommen.
Inklusion ist mehr als Barrierefreiheit
Normalität? Integration? Inklusion? Klaus Becker betrachtet das Altonaer Projekt mit großer Sympathie: Er leitet das Hamburger Inklusionsbüro und war entsprechend als Experte bei vielen Forumsgesprächen anwesend. Mit verkürzten Armen geboren, kennt er den Weg durch die Institutionen: „Ich war die ersten vier Jahre auf einer Sonderschule – heute würde ich sagen: reguläre Grundschule und auch regulärer Kindergarten und zwar von Anfang an.“
Also Inklusion. Integration sei es, wenn man nachträglich einzelnen Behinderten bei einem Leben unter Nichtbehinderten helfe. Entsprechend sei Inklusion weit mehr als nur bauliche Barrierefreiheit: „Inklusion heißt von vornherein mitdenken, was ist Vielfalt? Wer soll alles in dem neuen Stadtteil von Anfang an wohnen?“Er listet auf: ältere Menschen, jüngere Menschen, Menschen mit Behinderungen, alleinerziehende Mütter, kinderreiche Familien, ausländische Menschen. „Und dann muss man gucken: Was brauchen die in einem Stadtteil? Sie brauchen abgesenkte Bordsteine und Geschäfte, in denen man preiswert einkaufen kann; sie brauchen ungeplante Freiflächen und Spielplätze.“ Die zweite Säule von Inklusion: „Die Menschen bei allen Planungen von Anfang an mit einzubeziehen und nicht zu sagen ‚Ach, wir wissen schon, was für die gut ist.‘“
Zurzeit wird das Gelände planiert, wird auf letzte Blindgänger untersucht. Demnächst beginnen die Ausschachtungen. Entschieden wird in den nächsten Tagen aber zunächst, wer zu den auserwählten Baugemeinschaften gehört. Denn 20 Prozent der Wohnflächen der entstehenden Häuser sind ihnen vorbehalten. Beworben haben sich neben vielen wie die Baugemeinschaft „Beste Mischung“, die ein Mehrgenerationenhaus errichten will oder die Gemeinschaft „Hanseat“, der es um individuelles Wohneigentum geht, auch das Ehepaar Fatma und Salim Celik.
Sie leiten bisher die Altentagesstätte „Mekan“ nebenan in Altona-Altstadt. Nun haben sie neue Pläne: „Wir wollen ein Haus errichten, wo in kleinen Wohnungen türkische Rentnerinnen leben können, die jetzt mal in Lurup, mal in Billstedt, mal in Altona auf sich alleine gestellt sind.“ Salim Celik lacht: „Als ich selbst nach Deutschland kam, wollte ich erst vier, dann acht Jahre bleiben.“ Nun sind es 52 Jahre geworden. „Es war so nicht vorgesehen, aber Deutschland ist meine Heimat geworden; in der Türkei wartet niemand mehr auf mich – so geht es vielen unserer Landsleute, und wir müssen schauen, dass wir in Deutschland gut alt werden“, sagt er. Und wenn ihr Projekt keinen Zuschlag erhält? „Dann suchen wir weiter“, sagt Salim Celik.
Unterwegs auf dem Weg zur Baugemeinschaft sind auch Elke Bautze, Marion Munter und Tamara Tschikowani. Für ihr künftiges Hausprojekt haben sie sich einen pfiffigen Namen ausgedacht: „AltersStarrsinn“. „Das wird man, wenn man alt wird“, sagt Elke Bautze trocken. Sie wollen im Alter dann Tür an Tür wohnen; gerne in Nachbarschaft mit Familien. „Wir denken an ein Haus mit kleinen Appartments, wo jede ihr Reich hat, wo wir uns aber auch schnell gegenseitig helfen können“, sagt Tamara Tschikowani.
Marion Munter denkt schon einen Schritt weiter: „Wir sollten uns bald überlegen, ob wir nicht mit einem Verein fusionieren sollen, der sich mit Alzheimer und Demenz auseinandersetzt, denn es wird jede Dritte von uns erwischen.“ Sie sagt es nicht angsterfüllt, sondern fast gelassen. Das sei übrigens auch der Grund, warum es in ihrem Projekt so wenig Männer gebe: „Frauen überlegen eher: ‚Na, was ist, wenn ich nicht mehr so kann.‘ Männer sagen: ‚Für immer jung!‘ Und warten dann da- rauf, dass sich noch etwas ergibt!“, sagt Monika Munter.
Die drei haben sich für keines der Gebäude auf der sogenannten Nordfläche beworben: „Die Wohnungen dort sind von der Größe her auf Familien ausgelegt, damit können wir nichts anfangen.“ Sie hoffen vielmehr, dass beim zweiten Vergabeverfahren, wenn es um die Grundstücke im südlichen Teil des Neubaugebietes geht, geeignetere Flächen dabei sind. „Es ist auch viel Frust dabei, weil man denkt: ‚Ach, das könnte was werden‘ – und dann klappt es wieder nicht“, sagt Monika Munter. Andererseits werde man nicht dümmer, wenn man sich mit Stadtplanung und Inklusion im Detail und Allgemeinen beschäftige. Und die drei schauen auf die noch so leere Fläche, auf der sich in wenigen Jahren unterschiedlichste Menschen tummeln könnten, und Tamara Tschi- kowani sagt mit einem Seufzer: „Hier mitten in Altona wohnen zu können, das wäre toll, oder?“
Text: Frank Keil
Fotos: Heike Günther