Mehr als 1200 Menschen kümmern sich ehrenamtlich um Hamburgs Obdachlose. Manche Initiativen arbeiten inzwischen fast professionell. Aber oft kommt das Ehrenamt auch an seine Grenzen.
Die Schlange auf der Reeperbahn ist lang: Junge und Alte, Menschen mit Krücken, auch einige mit Hunden, warten darauf, dass ihnen die Frauen und Männer in den neongelben Warnwesten Essen auffüllen. Es gibt Pasta Bolognese und vegetarisches Chop Suey, 400 Portionen, alles frisch gekocht und kostenlos. Daneben verteilt jemand aus einem Koffer heraus warme Socken, binnen Sekunden sind sie vergeben. Vor dem Discounter steht außerdem das „Gesundheitsmobil“. Ärzt:innen und Pflegefachkräfte, die eigentlich heute ihren freien Tag hätten, leisten medizinische Hilfe. All das wurde aus Spenden finanziert.
Rund 200 Menschen ohne Wohnung sind an diesem Sonntag Anfang Oktober hergekommen. In der Regel seien es mehr, sagt Organisator Thorsten Bassenberg. Jedes zweite Wochenende versorgen er und seine etwa 30 Mitstreiter:innen die Menschen auf der Straße mit dem Nötigsten. Sie füllen eine Lücke: Die meisten Anlaufstellen für Obdachlose haben sonntags geschlossen.
2014 hat Bassenberg die Gruppe „Bergedorfer Engel“ gegründet. Er wollte etwas tun, weil er den Anblick von Obdachlosen nicht mehr ertrug, die offenbar sich selbst überlassen waren. „Ich bin immer an derselben Stelle vorbeigefahren und habe die Leute da in ihrem Elend liegen sehen“, erinnert er sich. „Ich habe mir gedacht: Es kann doch nicht sein, dass da jahrelang nichts passiert.“ Also fing er an, in seinem Keller Sachspenden zu sammeln und sie aus seinem Auto heraus auf der Straße zu verteilen.
„Es gibt einige Herausforderungen, aber dennoch brauchen wir die Ehrenamtlichen. Den Menschen auf der Straße würde es wesentlich schlechter gehen, wenn es diese Angebote nicht geben würde.“– Julien Peters, Straßensozialarbeiter
Inzwischen fährt er in einem weißen Transporter mit dem Schriftzug „Bergedorfer Engel“ durch Hamburg, finanziert aus Spenden und Geld von einer Stiftung. Seine Initiative verteilt mittlerweile nicht mehr nur Sachspenden: Als 2019 die Pandemie kam, sammelten er und seine „Engel“ Geld, um 19 Obdachlose in Hotelzimmern unterzubringen. Im vergangenen Winter waren es immerhin noch zehn. Für all das könnte der Staat sich durchaus mal erkenntlich zeigen, meint Bassenberg. So ein Nachmittag auf der Reeperbahn koste schließlich rund 1000 Euro: „Das müssen wir ja jeden Monat irgendwie aufbringen.“
Wo der Staat Lücken lässt, springen seine Bürger:innen ein: In Hamburg ist eine bemerkenswert große Szene von Ehrenamtlichen entstanden, die sich für Obdachlose engagiert. Mehr als 1200 Menschen gehören dazu, ergab eine Hinz&Kunzt-Abfrage unter Organisationen und Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe.
Sie fahren mit dem Kältebus durch die Stadt, verteilen Lebensmittel und Schlafsäcke, versorgen Obdachlose medizinisch, schneiden Haare oder sorgen dafür, dass sich auch Menschen ohne eigenes Bad in Würde waschen können. Hunderte helfen bei etablierten Einrichtungen wie der Bahnhofsmission oder dem städtischen Winternotprogramm – und bei Hinz&Kunzt. Die Liste der Initiativen ist viel zu lang, um sie hier alle zu nennen.
Hinzu kommt das finanzielle Engagement: Rund eine Million Euro sind in den vergangenen zehn Jahren allein über das „Spendenparlament“ an Initiativen aus der Obdachlosenhilfe vergeben worden. Neben dem städtischen Hilfesystem hat sich also längst ein zweites etabliert, getragen von der Solidarität der Hamburger:innen.
Hanseatic Help: Zu schnell zu groß für Ehrenamt
Viele Initiativen unterstützen sich auch gegenseitig. So fahren regelmäßig Transporter in der Großen Elbstraße am Hafen vor, um Sachspenden abzuholen. Das Lager von „Hanseatic Help“ ist das logistische Rückgrat der Hamburger Ehrenamtsszene. 2015 als Initiative der Flüchtlingshilfe entstanden, kümmert sich der Verein längst auch um obdachlose Menschen. 120 Ehrenamtliche helfen beim Sortieren von Altkleidern und anderen Spenden. In der einstigen Freiwilligeninitiative sind aber inzwischen auch 31 Menschen hauptamtlich beschäftigt, darunter mehrere Langzeitarbeitslose.
„Wir haben einfach gemerkt, dass wir an unsere Grenzen kommen“, erklärt Corinna Walter aus dem Hanseatic-Help-Vorstand. Zu schnell war das Projekt gewachsen, zu groß war der Aufwand für den ehrenamtlichen Vorstand. Deswegen entstanden 2018 mit Geld von der Stadt die ersten hauptamtlichen Stellen, unter anderem für Geschäftsführung und Buchhaltung. Denn Projekte, die sich allein aufs Ehrenamt stützen, haben ihre Grenzen: „Wir wollten auch sicherstellen, dass unsere Arbeit nicht von heute auf morgen wegbricht“, sagt Walter.
Aus der Wohnungslosenhilfe sind Ehrenamtliche nicht mehr wegzudenken. Doch ihre Mühen und die Hilfsbereitschaft haben auch Schattenseiten. Wer mit Fachleuten spricht, hört geteilte Meinungen zu den vielen Engagierten. Die Laien könnten die Folgen ihres Handelns manchmal nicht abschätzen, heißt es da. „Das größte Risiko besteht darin, den Menschen falsche Hoffnungen zu machen, etwa auf eine Wohnung“, sagt zum Beispiel Julien Peters, Straßensozialarbeiter bei der Caritas. „Wenn es dann mit der Wohnung nicht klappt, weil die Ehrenamtlichen bestimmte Hürden nicht kennen, resignieren die Menschen.“ Mühsam aufgebautes Vertrauen könne so schnell zerstört werden. Und auch manch Ehrenamtliche könnten nicht damit umgehen, wenn ein Obdachloser dann nicht die erwartete Dankbarkeit zeigt.
Blauäugiges Helfen kann schlimme Folgen haben
Oder noch schlimmer: Für eine EU-Bürgerin blauäugig Leistungen beim Jobcenter zu beantragen, kann am Ende ihre Abschiebung bedeuten. Einen Alkoholkranken zu einem kalten Entzug zu überreden, kann sogar lebensgefährlich werden. „Es gibt einige Herausforderungen, aber dennoch brauchen wir die Ehrenamtlichen”, sagt Julien Peters, der das Engagement grundsätzlich begrüßt. „Den Menschen auf der Straße würde es wesentlich schlechter gehen, wenn es diese Angebote nicht geben würde.“
„Wir wollen nicht einfach nur Sachen verteilen, sondern nachhaltige Hilfe leisten und dabei helfen, dass die Leute einen Weg runter von der Straße finden.“– Sonja Norgall, Mitternachtsbus
Aber es ist eben auch Fachwissen gefragt. Der Mitternachtsbus, eines der dienstältesten Freiwilligenprojekte in der Hamburger Wohnungslosenhilfe, organisiert deshalb regelmäßig Fortbildungen für seine 140 Ehrenamtlichen. Sie sollen in der Lage sein, die Obdachlosen bei ihren Begegnungen am Bus an die passenden Einrichtungen zu verweisen. „Wir wollen nicht einfach nur Sachen verteilen, sondern nachhaltige Hilfe leisten und dabei helfen, dass die Leute einen Weg runter von der Straße finden“, sagt die hauptamtliche Projektleiterin Sonja Norgall. Das funktioniert auch deshalb verlässlich, weil der Mitternachtsbus kein „Graswurzelprojekt“ mehr ist, sondern angebunden an das Wohnungslosenzentrum der Diakonie. Nach wie vor ist das Projekt aber rein spendenfinanziert.
Fachwissen und Vernetzung
Ganz wichtig sei es, die unterschiedlichen Initiativen und hauptamtlichen Helfer:innen untereinander zu vernetzen, damit die nicht versehentlich gegeneinander arbeiten. „Das passiert leider viel zu wenig“, sagt Norgall. Die Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege (AGFW), ein Zusammenschluss von Trägern wie Caritas und Arbeiterwohlfahrt, wollte das ändern. Engagierte und Sozialarbeiter:innen erarbeiteten dort 2019 gemeinsam Standards für den Umgang mit den Menschen auf der Straße. „Wir respektieren die physischen und psychischen Grenzen aller Beteiligten“, heißt es etwa in den „Goldenen Regeln für Aktive in der Wohnungslosenhilfe“. Und: „Unser Handeln soll nicht entmündigen und/oder erziehen.“ Viele Ehrenamtliche halten sich daran, aber nicht alle wissen überhaupt davon. Regelmäßige Treffen zwischen Profis und Laien bei der AGFW gab es zuletzt vor zwei Jahren. Immerhin findet Vernetzung inzwischen
verstärkt auf anderen Wegen statt: über WhatsApp-Gruppen und Zoom-Meetings zum Beispiel.
„Wir versuchen auch immer, eine Grenze zu ziehen, wir sind ja keine Sozialarbeiter.“– Thorsten Bassenberg, Bergedorfer Engel
Thorsten Bassenberg ist sich dieser Problematik bewusst. Die „Bergedorfer Engel“ würden sich auf die Versorgung mit Essen und Sachspenden beschränken, sagt er: „Wir versuchen auch immer, eine Grenze zu ziehen, wir sind ja keine Sozialarbeiter.“ Dafür, wie das Zusammenspiel von Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen klappen kann, liefert er aber ein gutes Beispiel: Als seine Initiative Hotelzimmer für Obdachlose angemietet hatte, übernahmen Diakonie und Caritas die Sozialarbeit.
Noch besser wäre es freilich, wenn all das Engagement gar nicht nötig wäre. „In den letzten drei, vier Jahren sind so viele Suppenküchen neu entstanden, so viele Vereine gegründet worden …“, sagt Bassenberg. „Aber das eigentliche Ziel, dass die Leute in die Wohnungen kommen, das wird vernachlässigt.“