Stress um die Karodiele: Seit März ist die Ladenpassage zwischen Schanze und Karoviertel nachts dicht. An dem kleinen Durchgang zeigen sich exemplarisch die großen Konflikte in der Stadtentwicklung.
Eine Samstagnacht im März: Es ist kurz vor Mitternacht, als zwei Männer und eine Frau nicht mehr weiterkommen. Sie stehen vor einer schweren Glastür, versuchen sie aufzustoßen. Rütteln daran, nichts tut sich. Über ihren Köpfen, an der Außenmauer der Alten Rinderschlachthalle, leuchtet ein Schild: „Durchgang geschlossen.“ Bisher konnte man hier immer durch.
Doch seit Anfang März ist die Passage, die die Markt- mit der Sternstraße verbindet, nachts zwischen 23.30 Uhr und 6 Uhr zu. Veranlasst hat dies die Eigentümerin der Karodiele, die Stadtentwicklungs- und Erneuerungsgesellschaft, kurz „steg“. Dazu hat sie sich mit dem Bezirk Mitte und dem Cityausschuss abgestimmt. Das Recht dazu hat sie: Der Fußgängerweg durch die Karodiele ist ein öffentlich zugänglicher Privatweg, der laut Grundbuch nur bis 23.30 Uhr frei zugänglich sein muss.
Die meisten Hamburger nutzen ihn als praktische Abkürzung zwischen der Schanze und dem Karoviertel; huschen schnell vorbei an den kleinen Läden mit den großen Schaufenstern, nur 30 Schritte, dann ist die kleine Karodiele durchquert. In den oberen Etagen gibt es günstige Büros für Gründer. Samstags stellen die Flohmarkthändler hier ihre Tische auf, donnerstags spielen Leute hier regelmäßig Tischtennis.
Heftige Partys in der Passage
Manche Menschen nutzen die Karodiele jedoch seit zwei Jahren für Dinge, die so nicht geplant waren: Die steg stört sich vor allem an Jugendlichen, die hier heftige Partys feiern. Die Musik ist meist laut, der Alkohol von der billigen und harten Sorte. Nach den Wochenenden zeugen zerbrochene Flaschen, Müll und Erbrochenes davon.
„Die Anwohner haben zunehmend Angst, da durchzugehen“, sagt ein Polizeisprecher. 27 Anzeigen nahm die Polizei allein von Januar bis Mitte 2018 auf, darunter der Fall, der für die steg die neue Abschottungspolitik auslöste: Im Dezember 2017 wurde ein Auszubildender des Musikclubs „Knust“ brutal zusammengeschlagen. Drei Wochen lag er mit gebrochenem Augenhöhlenboden im Krankenhaus. „Das ist so ein Punkt, wo man innehält“, sagt Knust-Chef Karsten Schölermann. Dass die Karodiele nun nachts schließt, ist für ihn „das beschissene Ende einer mindestens drei Jahre andauernden Eskalation“.
Aber dann ist da noch eine andere Gruppe, die die überdachte Karodiele schätzt: Obdachlose. Menschen wie Jacek, für den dieser Durchgang viel mehr ist: ein unverhoffter Schutzraum in der Stadt. Der 50-Jährige hat ein halbes Jahr in der Karodiele geschlafen, gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von vier, fünf anderen Obdachlosen. Nachts haben sie immer ihre Schlafsäcke ausgepackt und sich in den kleinen Nischen vor den Läden eingerollt. Hier, wo es trocken, warm und windgeschützt ist. „Morgens haben wir um 7 Uhr unsere Sachen immer weggeräumt“, erzählt der Pole.
„Wir hatten nie Probleme mit den Nachbarn.“– Jacek, Obdachloser
Ende Februar sagte ihm einer der Security-Leute, die die steg schon seit mehreren Jahren beschäftigt, dass sie jetzt bald rausmüssten aus der Karodiele. Jacek, der seine Heimat Łód vor vielen Jahren verließ und in Hamburg als Erstes den Spruch „Alles paletti!“ lernte, verstand nicht. „Warum? Wir hatten nie Probleme mit den Nachbarn“, meint er. „Einige von uns sind krank. Ich bin Alkoholiker“, sagt er, „aber wir sind auch Menschen.“ Stefan Jansa, der einen Fahrradladen in der Karodiele hat, findet: „Unsere wohnungslosen Nachbarn sind die Leidtragenden der ganzen Eskalation.“
„Uns ist bewusst, dass wir manchen mit der Schließung einen Unterschlupf nehmen“, sagt steg-Mitarbeiterin Lisanne Rieckmann, „das bedauern wir, aber wir machen das nicht leichtfertig.“ Das glaubt im Viertel nicht jeder. Auf einer „Party gegen die Verdrängung“ am 1. März demonstrierten rund 50 Menschen friedlich gegen die Schließung und gegen die „Yuppisierung“ des Viertels. Man wolle verhindern, „dass diese Stadt sich in ein Paradies für die Reichen und einen Käfig für alle anderen entwickelt“, sagen sie. Die Karodiele müsse geschützt werden als ein „öffentlicher Raum, an welchem es in dieser Stadt offenkundig fehlt.“
Verklebte Schlösser und Graffiti
Kurz danach fanden sich Graffiti wie „Karo-Diele für alle, sonst gibt es Krawalle“ an einer Wand. Die Schlösser der neuen Sicherheitstüren waren verklebt. Die Passage schloss dann erst am 8. März zum ersten Mal, nachdem eine Polizeistaffel mit zwei Hunden die Karodiele geräumt hatte. „Wir leisten jeden Donnerstag pazifistischen Widerstand, bis die steg eine Alternative anbietet“, sagen diejenigen, die die Karodiele als öffentlichen Freiraum erhalten wollen.
„Von den Leuten, die hier gegen die Schließung Alarm machen, heißt es nur: ‚Die steg will hier die Obdachlosen verjagen‘“, so Stefan Jansa vom Fahrradladen. „Diese Leute sind aber nicht da, wenn hier Flaschen geworfen werden oder vor die Läden uriniert wird.“ Er klingt ehrlich frustriert. Die Situation sei „komplex und zwiespältig“, aber nach außen werde überhaupt nicht differenziert.
„Die Situation ist komplex und zwiespältig.“– Stefan Jansa, Fahrradhändler
2017 habe zeitweise eine „extrem aggressive Gruppe osteuropäischer Obdachloser für untragbare Zustände gesorgt“, sagt er: „Die waren ständig betrunken, haben die Diele vermüllt und Passanten belästigt.“ Sein damals neunjähriger Sohn habe sich morgens nicht mehr durch die Passage getraut. Auch Knust-Chef Karsten Schölermann erinnert sich: „Die Obdachlosen haben sich oft gegenseitig verprügelt, wir haben zwei Mal pro Woche die Polizei gerufen.“ Er habe keinen Stress mit Leuten, die hier schlafen. „Ich habe aber Stress, wenn hier geschlagen wird.“
Mit der jetzigen Gruppe gibt es keine Probleme. Schölermann erzählt von der obdachlosen Angelika, die ihre Sachen beim Knust verstaut, auf die Toilette kann oder im Treppenhaus übernachtet, wenn sie mal wieder Stress mit ihren inneren Dämonen hat. Eine andere Gruppe Obdachloser „lebt quasi bei uns im Außengastrobereich“, so der Knust-Chef. Es ärgert ihn, dass er als Verdränger beschimpft wird: „Wir haben uns diese Räume auch hart erkämpft als Kulturbetrieb und können sie einfach nicht dem Suff überlassen.“
„Die Nischen in der Stadt werden weniger.“– Michael Siassi, Anwohner
„Diese Nischen, wo man mal im Trockenen sein kann und wo sich niemand groß kümmert, werden überall weniger“, findet Michael Siassi, er wohnt nur ein paar 100 Meter von der Karodiele entfernt. Er sieht die nächtliche Schließung in einem größeren Zusammenhang: der fortschreitenden Gentrifizierung des Karoviertels. Dem Verein, der die „Galerie Hinterconti“ in der Marktstraße betrieb, wurde der Vertrag gekündigt. Der Bunker an der Feldstraße wird aufgestockt. Es gibt immer mehr Veranstaltungen auf dem Lattenplatz.
Die Schließung sei wieder „nur so eine Punktlösung“, die das Problem eigentlich nur verschiebe, sagt er. Abschotten statt Angebote machen – zum Beispiel für nichtkommerzielle Orte im Viertel, wo sich Jugendliche treffen können. „Die Jugendlichen, die sich da zum Kiffen treffen, die haben wir auch schon bei uns im Keller gehabt“, sagt Siassi. So sieht es auch Knust-Chef Karsten Schölermann: „Dass die sich da am Wochenende immer zwei bis drei Flaschen schlechten Wodka reinzerren, hat auch viel mit fehlenden Orten für Jugendliche zu tun“, ist er überzeugt. Die Jugendlichen, die Obdachlosen, die Yuppies – mit einfachen Feinbildern kommt man in der Karodiele nicht weit.
Karodiele bleibt geschlossen
Bei der steg hofft man, dass die Wochenend-Gelage nun abebben. Bis Mitte April soll die Schließung zunächst dauern. Sollte es bis dahin noch einmal frieren, dürfen die Obdachlosen wieder rein. Die Security-Leute hätten eine Anweisung. Die steg muss die Schließung auch im Cityausschuss dokumentieren. Bezirkspolitiker Michael Osterburg (Grüne) sagt: „Wir müssen prüfen, ob die Maßnahme überhaupt sinnvoll war oder zurückgenommen werden kann.“
Seine Kollegin Theresa Jakob (Die Linke) hat schon jetzt eine Meinung: „Es geht hier um ein gesellschaftliches Problem, das sich nicht dadurch lösen lässt, dass man die Karodiele schließt. Ich wünsche mir Wohnungen für Obdachlose“, sagt sie.
Jacek und seine Kumpels haben zwischenzeitlich einen neuen Schlafplatz gefunden: drüben, beim Bunker – ganz nah an der Karodiele, in der für sie lange Zeit „alles paletti“ war.