(aus Hinz&Kunzt 150/August 2005)
Am Schluss kräht keiner nach dir
Klaus erinnert sich an die Beerdigung eines Obdachlosen
Richtige Freundschaften sind unter Obdachlosen selten. Es gibt Zweckgemeinschaften, es gibt Leute, mit denen du gut zurechtkommst oder mal um die Häuser ziehst. Aber kaum Freundschaften. Jeder hat mit sich selbst und seinem eigenen Elend genug zu tun.
Es ist mehr als zehn Jahre her, da machte ich bei einem Theaterprojekt mit Obdachlosen in Berlin mit. Etwa ein Jahr lang probten wir „Der Untertan“ und spielten das Stück dann in Kirchen und Gemeindehäusern.
Einer von uns war Heiko. 19 Jahre alt und der am positivsten denkende Mensch, den ich je kennen gelernt habe. Obwohl es ihm auf der Straße nicht gut ging, stimmte er nie in allgemeines Gejammere ein. Plötzlich kam er nicht mehr zu den Vorstellungen. Wenig später erfuhren wir, was passiert war: Zwei Skinheads hatten ihn totgeschlagen.
Bei seiner Beerdigung waren wir die Einzigen am Grab – hätte es das Theaterprojekt nicht gegeben, hätte man ihn wohl einfach so verscharrt. Wir brachten abgerissene Eintrittskarten mit, die wir statt Erde auf seinen Sarg warfen.
Aber als wir da am Grab standen, fiel uns auf: Keiner kannte ihn so richtig. Keiner konnte etwas über sein Leben sagen. Der Pfarrer natürlich erst recht nicht, der machte die üblichen „Asche zu Asche“-Sprüche. Dazu spielte eine Frau auf einer kleinen Orgel immer wieder das gleiche traurige Lied – als wollte sie sagen: „Jetzt weint doch gefälligst.“ Es war ganz grauenhaft. Uns wurde bewusst: Am Schluss kräht keiner nach dir.
Heute habe ich durch Hinz&Kunzt einige enge Freunde. Aber um mich herum beobachte ich viele Menschen, denen es so gehen wird wie Heiko. Nicht nur alte Menschen, die in ihren Wohnungen vereinsamen, auch Jugendliche. Jeder hat damit zu tun, neue Produkte zu kaufen und anzusammeln. Keine Zeit für Freundschaften. Am Ende bringt dir das gar nichts. Wenn du Glück hast, bleibst du dann ein paar Freunden in Erinnerung.
Ich habe wieder weinen gelernt
Ulla erzählt von Funeral Partys in Ghana und Hamburg
Wenn ich als „Weiße“ bei einer ghanaischen Funeral Party bin, fühle ich mich wie eine von ihnen. Ich habe auf afrikanischen Beerdigungen wieder gelernt zu trauern und zu weinen, auch um die Toten in meiner Familie und im Freundeskreis.
In Ghana finden Beerdingungsfeste nachmittags in Innenhöfen oder auf großen Marktplätzen statt. Sie dienen nicht nur der Trauer, sondern auch um Kontakte zu knüpfen, zu erhalten oder Konflikte beizulegen.
Nach dem Tod eines Angehörigen lädt die Familie eine Woche lang jeden Abend ein, um gemeinsam der Toten zu gedenken und zu beten. Nur die engsten Familienangehörigen dürfen zu dem Toten in die Leichenhalle, um dort die Durchführung der Beerdigung und der Feiern zu bereden. In Ghana gehen dann die Frauen durchs Dorf, um die Leute einzuladen. Jeder kann sich beteiligen. Manchmal kommen 500 Leute und mehr zu so einer Beerdigung.
Wichtig ist, dass das Oberhaupt der Familie, der Abusuapanin, bei einem Ghanaer, der in der Fremde starb, etwas von den Fingernägeln und Haaren des Toten abschneidet, um sie später nach Ghana zu bringen und sie in die Heimaterde zu tun. Alle diese Regeln und Rituale sind kulturell festgelegt.
Bei der großen Feier spielt die Begrüßung an einer geschmückten, U-förmigen Tafel eine wichtige Rolle, an der die Familie, wichtige Repräsentanten der Gesellschaft und die Sponsoren der Feier sitzen. Sponsoren in Hamburg sind etwa Besitzer von Afro-Shops, deren Läden samt Spenden lobend erwähnt werden.
Dann beginnt die Zeremonie: Es werden alle wichtigen Leute vorgestellt und das Leben des Verstorbenen geschildert. Erst spät in der Nacht beginnt der Trauertanz, die letzte Beweinung des Verstorbenen durch die Hinterbliebenen. Dann geht es in den allgemeinen Tanz über. Denn nach der Trauer geht das Leben weiter, das drückt sich in den Tänzen aus.
Normalerweise wird noch eine Feier nach einem Trauerjahr vollzogen. Sie ist ähnlich wie die erste Party.
Renate, du warst eine der Besten
Sie haben gemeinsam gelitten und gemeinsam geträumt. Doch dann ging es der Freundin immer schlechter und sie starb. Vergessen hat Ulla sie nicht
Renate begegnete ich in der Frauen-Unterkunft. Sie war der einzige Mensch, mit dem ich mich ausgiebig und gut unterhalten konnte. Wir erzählten uns von unserer Vergangenheit in den 70er- und 80er-Jahren, als wir beide auf der Uhlenhorst lebten, ohne uns zu kennen. Das brachte uns näher. Wir haben auch von gemeinsamen Projekten geträumt, sie geplant und aufgeschrieben. Zum Beispiel wollten wir ein Café eröffnen. Das half uns über die Trostlosigkeit dieser schrecklichen Zeit hinweg. Es wuchs eine Verbundenheit, die nicht mehr abreißen sollte bis über ihren Tod hinaus. Ich litt darunter, dass sie Alkoholikerin war, aber die Freundschaft war eben da.
Renate hatte einen Freund, von dem sie sehr abhängig war. Er war alkohol- und asthmakrank und sehr dick. Renate wollte, dass er sie zu sich in die Wohnung holte. Doch er wollte das zunächst nicht, und sie litt und trank sehr. Ich besuchte ihren Freund, der im Krankenhaus lag. Ich „beschnackte“ ihn, dass er Renate in seine Wohnung holen solle. Er tat es dann auch bald!
Für eine Zeit verlor ich den Kontakt. Dann traf ich Renate zufällig am Barmbeker Bahnhof. Da sie nicht weit entfernt wohnte, konnte ich sie öfter besuchen. Sie lebte ein bisschen auf in dieser Zeit. Sie hatte ihren Haushalt, ihre „Freunde“ um sich, und es gab in ihrer Umgebung Kinder, die sie ein bisschen betreuen konnte. Aber durch die Männer-Alkohol-Szene um sie herum gab es viel Ärger und Stress.
Man wollte den Freund zur Kur und Operation schicken. Die Auflage war, dass er vorher mindestens vier Wochen lang nicht trinken darf. Er hielt nicht durch. Was ich nicht wusste: Die Wohnung war inzwischen gekündigt worden. Außerdem ließen die beiden sich auf allerlei Abzahlungsgeschäfte ein.
Dann nahm das Verhängnis seinen Lauf. Renate erlitt einen leichten Schlaganfall mit Sprachstörung, und der eine Arm wollte nicht mehr. Ich brauchte zwei Tage, um sie zu überreden, dann gingen wir Arm in Arm zum Arzt. Die Anstrengungen und der Stress und die Angst waren so groß, dass sie noch einen Schlaganfall bekam. Renate hatte Angst, nie mehr nach Hause zu kommen. Ihre Angst war begründet, denn der Freund wollte, dass sie in ein Pflegeheim kommt, er wollte sie nicht als behinderte Frau zurückhaben. So fühlte sie sich von ihm abgeschoben!
Sie kam für kurze Zeit ins Krankenhaus, danach wurde sie zu Hause von einem Pflegedienst versorgt. Dann das dramatische Ende des Freundes, der mit einem schweren Asthma-Anfall mit Kran durchs Fenster ins Krankenhaus transportiert wurde und am gleichen Tag verstarb. Wir versuchten, Renate das schonend beizubringen. Doch sie hat den Tod des Lebensgefährten nie verwunden.
Schließlich kam Renate zu pflegen & wohnen in die Oberaltenallee. Nun war sie doch im Pflegeheim gelandet, wo sie nicht hinwollte. Ich konnte sie immer besuchen. Auch ein alter Bekannter kam und Leute aus der Obdachlosenzeit. Sie bekam eine Betreuerin, die sich nett um sie kümmerte. Weil wir nach einiger Zeit den Eindruck hatten, es muss mehr für Renate getan werden, brachte die Betreuerin sie in die Reha-Klinik Großhansdorf.
Renate verstand nie, warum sie nicht in ihre Wohnung zurückkonnte. Die mussten wir auflösen. Renate bat mich, ihre Sachen zu retten, und wir träumten immer noch, dass sie eine behindertengerechte Wohnung in meiner Nachbarschaft bekommen könnte. Aber Renate machte nie so viele Fortschritte, dass wir es wagen konnten, das zu realisieren. Ihr Herz war geschwächt. Sie hatte zu lange getrunken, geraucht und zu viele Schlaganfälle gehabt.
Eines Tages fühlte ich, dass es ihr schlechter ging. Ich durfte noch einmal kommen und mich verabschieden – am nächsten Tag lebte sie nicht mehr. Sie wurde anonym bestattet, so war es ihr Wunsch. Ich war nicht dabei, niemand durfte dabei sein!
Ihre Sachen habe ich gerettet. Unsere Pläne sind gestorben. Sie hatte auch meinen Mann kennen gelernt und mochte ihn sehr gerne. Sie lebt in so vielem weiter, nicht nur in den Dingen, die mich an sie erinnern. Renate, du warst eine der Besten!