In seinem neuen Dokumentarfilm porträtiert der Hamburger Rasmus Gerlach charismatische Frauen vom Kiez: von der Autorin bis zur Ordensschwester. Ab sofort läuft der Film in den Kinos.
Man kann nicht behaupten, dass Rasmus Gerlach die Sache übers Knie gebrochen hätte. Dem Hamburger Filmemacher (55) kam die Idee für seinen neuen Dokumentarfilm über „St. Paulis starke Frauen: Reeperbahner*innen“ schon vor mehr als fünf Jahren. Nicht am Schreibtisch, sondern während einer Demonstration.
Wie so oft, wenn auf den Straßen St. Paulis etwas Spannendes passierte, war Gerlach mittenmang dabei. So auch an diesem 21. Dezember 2013, dem Tag, an dem zwei große Demonstrationen vor der Roten Flora eskalierten. „Danach rief die Polizei die umstrittenen Gefahrengebiete aus, es kam zur sogenannten Klobürsten-Revolution von St. Pauli.“ Die Klobürste wurde zum Symbol für gewaltfreien Widerstand. „Und es gab eine große Kissenschlacht vor der Davidwache“, erinnert er sich.
Und noch etwas geschah: Im Nachgang rollten in der Politik und bei der Polizei Köpfe. „Anders als nach G20“, sagt Gerlach und lächelt. Und zum allerersten Mal in der langen Geschichte wurde ab Ende 2014 eine Frau Chefin der berühmtesten Polizeiwache Deutschlands mit 120 Mitarbeitern. Ihr Name: Cornelia Schröder, genannt Conny. „Eine sehr unkomplizierte, kommunikationsfreudige und moderne Frau. Ich dachte, es ist vielleicht eine neue Zeit angebrochen“, so Gerlach über die damals 47-jährige Polizeioberrätin, die selbst in Hamburg aufwuchs. „Ich bin offen und ehrlich – und scheue auch keine unangenehmen Gespräche“, sagte sie damals der Presse, die wissen wollte, wie sie ihren viel beachteten Job denn auszufüllen gedenke.
„Das Gesicht von St. Pauli ist weiblich.“
Conny Schröder ist eine von rund 20 Frauen, die Gerlach in seinem Film porträtiert. Alle arbeiten oder leben auf St. Pauli und prägen den Kiez auf ihre Art, sagt der Filmemacher. Er ist bei der Auswahl seiner Protagonistinnen undogmatisch vorgegangen: Neben der Polizistin Schröder, die inzwischen nicht mehr in der Davidwache arbeitet, besuchte er Türsteherinnen, Ordensschwestern, Barbesitzerinnen, Tänzerinnen, Klofrauen, Politaktivistinnen und Musikerinnen. Er traf junge und alte Frauen vom Kiez. Auch bereits Verstorbene werden gewürdigt. „Das Gesicht von St. Pauli ist weiblich“, sagt die Offstimme einmal. Gerlach will mit seiner Doku zeigen, wie vielseitig dieses weibliche Gesicht von St. Pauli ist.
Der Mut zum Unkonventionellen verbindet
Denn so unterschiedlich die Frauen sind, eines verbindet sie, sagt Gerlach: „Was auf jeden Fall eine Gemeinsamkeit ist: ihr Mut zum Unkonventionellen.“ Da wäre etwa Mary Dostal, früherer Künstlername Mary McGlory. Die heute über 70-Jährige spielte in den 1960er-Jahren Bass bei einer der ersten weiblichen Rockbands überhaupt: den Liverbirds. Wie die Beatles kamen auch sie aus Liverpool nach Hamburg. Wie die Beatles spielten auch sie ihre ersten Auftritte im „Star-Club“. Sie eröffneten Konzerte für die Kinks und die Rolling Stones, trugen bei ihren Auftritten futuristisch anmutende weiße Anzüge und brachen in ihren Texten mit Rollenklischees.
Statt von ihrem Liebsten zu schwärmen, fragten sie etwa provokant „Why Do You Hang Around Me?“, frei übersetzt: „Wieso schleichst du dich nicht endlich?“ Die Liverbirds waren frühe Feministinnen. Dennoch kennt sie heute, Musiknerds einmal ausgenommen, fast niemand mehr. Während den Beatles unzählige Filme, Bücher und sogar ein prominentes Denkmal an der Großen Freiheit gewidmet sind, sind die Liverbirds nahezu vergessen.
Darüber kann sich der eigentlich sonst eher ruhige Gerlach aufregen: „Ich finde es einfach eine riesige Dummheit, dass man den Reichtum, der da ist, in so einer Weise negiert. Die Liverbirds haben aber einen einzigen prominenten Fürsprecher, nämlich Udo Lindenberg. Der hat mal gesagt, dass die Liverbirds den Punk erfunden haben“, sagt er.
„Die Liverbirds waren unglaublich charismatisch“– Rasmus Gerlach
Gerlach trägt nun mit seinem Film dazu bei, ihren Namen wieder in Erinnerung zu rufen. Wenn er von der Frauenband spricht, gerät der Filmemacher ins Schwärmen: „Die Liverbirds waren unglaublich charismatisch: Pamela war als Sängerin eine herausragende Figur. Sie hatte so was Besonderes, ein bisschen wie Velvet Undergrounds Nico. Das war dieses Dissonante, dieses immer etwas zu tief Gesungene. Sie konnte zwischendurch auch immer wieder am Boden zerstört sein. Leider ist sie, ebenso wie Valerie, bereits verstorben.“
In seinem Film begleitet Gerlach Bassistin Mary Dostal, die mit der Musikerin Bernadette La Hengst („Die Braut haut ins Auge“) einen nächtlichen Streifzug zu wichtigen Orten in der Liverbirds-Geschichte macht. Es hat ein bisschen etwas von einer Folge der beliebten arte-Reihe „Durch die Nacht mit …“. Sie sei damals schon sehr geschockt von der rauen Reeperbahn gewesen, sagt Mary Dostal da in weichem Deutsch, dem man die britische Herkunft bis heute anhört. Ursprünglich habe sie Nonne werden wollen, berichtet Gerlach und lacht. „Daraus ist dann ja bekanntlich nichts geworden.“
Exklusiver Einblick ins Haus Bethlehem
Bei Schwester Irmela hat es hingegen geklappt. Die Ordensfrau leitet das Haus Betlehem, in dem sich ihre „Missionarinnen der Nächstenliebe“ um Menschen in Not kümmern. Jeden Tag versorgen sie Obdachlose und Arme mit Kaffee, Suppe und Brötchen, an Sonntagen gibt es eine warme Mittagsmahlzeit. Die Schwestern haben eine Kleiderkammer. Man kann duschen und seine Wäsche waschen lassen in den unauffälligen Räumlichkeiten an der Budapester Straße. Auch ein paar Notübernachtungsplätze gibt es hier.
Normalerweise sind Filmaufnahmen in dem zum weltweiten Mutter-Teresa-Klosterorden gehörenden Haus streng untersagt – doch Gerlach lernte Oberin Irmela bei vielen Gesprächen am kleinen Gärtchen vor dem Haus kennen und gewann schließlich ihr Vertrauen. „Die Nonnen verbergen ihr Privates komplett. Gleichzeitig haben sie alle faszinierende, private Geschichten, die sie dazu gebracht haben, ins Kloster zu gehen“, sagt Gerlach.
„St. Pauli ist kein Stadtteil, in dem man sich gut zurücklehnen kann.“– Rasmus Gerlach
Am Beispiel der Nonnen zeige sich etwas, was typisch für St. Pauli sei, sagt Rasmus Gerlach: „Es ist kein Stadtteil, in dem man sich gut zurücklehnen kann. Man wird eigentlich tagtäglich irgendwie konfrontiert: Der Stadtteil fordert die Leute.“ Gerlach glaubt, dass es auch deshalb so viele starke Frauen nach St. Pauli zieht. „Das Interessante war aber, dass fast alle von auswärts nach St. Pauli kamen“, sagt er. Eine von ihnen ging viel zu früh. Die Schriftstellerin Christine Garelly wartete 1998 an einer Bushaltestelle an der Stresemannstraße, als ein junger Fahranfänger die Kontrolle über seinen Jaguar verlor und in die Gruppe raste. Garelly starb, mit nur 31 Jahren. „Sie war eine unglaublich energiesprudelnde, junge Schriftstellerin, eine Randständige“, sagt der Regisseur, der sie persönlich kannte.
Und: Sie brachte den Poetry Slam nach Hamburg. Zusammen mit Tina Uebel, heute eine der bekanntesten Schriftstellerinnen von St. Pauli, war Garelly in den 1990ern nach Chicago gereist. Per Zufall erlebten sie dort die Anfänge der Poetry-Slam-Szene.
Von Garelly selbst sind nur wenige Texte überliefert. Nach ihrem Tod brachte der Hamburger Verlag Edition 406 den Erzählband „Wenn ich rede“ heraus. Mit Geschichten über eine Frau namens Gerda, die im Müll lebt, und einen 16 Kilo schweren Kohlkopf, als dessen Nachgeburt sich die Ich-Erzählerin sieht. „Ich finde außergewöhnlich, was sie geschrieben hat“, sagt Gerlach.
Außergewöhnlich ist auch, was Gerlach weggelassen hat in seinem Dokumentarfilm – nämlich die Frauen, die normalerweise immer plakativ vorkommen, wenn es um St. Pauli geht: die Prostituierten. Das habe seinen Grund, sagt Gerlach: „Diese Geschichten wurden schon so oft erzählt, und sie brauchen auch mehr Länge. Es ist verkehrt, solche Schicksale nur zu streifen. Das wird der Sache dann nicht gerecht.“
Eine kurze Sequenz hat Gerlach aber doch eingebaut. Mit Domenica, Hamburgs berühmtester Hure. Eine von vielen starken Frauen St. Paulis. Sie ist schon seit 2009 tot, bleibt aber unsterblich – im Wachsfigurenkabinett.