In Dithmarschen leben viele Menschen aus Rumänien. Sie erledigen Jobs, für die sich schon lange keine Einheimischen mehr finden lassen. Ein Gewinn für beide Seiten?
An diesem Donnerstag Anfang Mai ist Madalin Duna der Mann für alles. Eine Dachrinne hat der 22-Jährige neu angeschlossen, Frühkohl gepflanzt und dicke Holzpfosten in die Erde gebracht, die einen Zaun halten sollen. Nun steht der muskulöse Kerl auf dem Hof des Biobauern York Wollatz und zögert keine Sekunde mit der Antwort auf die Frage, was sein Chef für einer sei. Er habe schon für viele Bauern gearbeitet, sagt der Rumäne. „Keiner war so nett wie er.“ Wollatz, ein herzlicher Mann mit lautem, ansteckendem Lachen, kommt hinzu. „Hab ich ihm gut beigebracht, oder?“, scherzt der 50-Jährige und grinst. „Madalin, du musst sagen: ,Das ist ein guter Chef!‘ Dann gibt’s auch mehr Geld!“ Und der gebürtige Dithmarscher und der Zugezogene aus der Walachei lachen gemeinsam.
Seit drei Monaten arbeitet Madalin Duna auf dem Hof des Biobauern. Sein Onkel, schon länger bei Wollatz, hat ihn empfohlen. Zuvor war der junge Rumäne beim Gerüstbau, „ein guter Job, aber körperlich sehr anstrengend“. Das sehr einfache Deutsch, das er beherrscht, habe er dort gelernt. Aufgewachsen ist Duna in Spanien, wo seine Eltern auf den Feldern gearbeitet haben. Seit vier Jahren lebt der zurückhaltende, fast schüchtern wirkende Mann nun in Dithmarschen. In seiner Heimat, sagt er, könnte er vielleicht 600 oder 700 Euro pro Monat verdienen. Hier sind es inzwischen 1800. Duna lebt mit Frau, dreijähriger Tochter, seinem Bruder und dessen Familie in einer Wohnung mit drei Schlafzimmern im einen Kilometer entfernten Wesselburen und sagt über das Leben dort: „Manche Einheimische sind ein bisschen rassistisch. Die reden manchmal Scheiße. Aber was kannst du machen?“
Mittagszeit in der 3550-Seelen-Stadt Wesselburen, gut 100 Kilometer nordwestlich von Hamburg gelegen: Kinder schleppen ihre Schultaschen über den Marktplatz nach Hause, mal sind es deutsche Grüppchen, mal rumänische. Ältere, offenkundig gut situierte Einheimische lassen sich in der „Ulmenklause“ den Hering schmecken, der heute mit Bratkartoffeln und Salatbeilage gereicht wird. Ein paar Meter weiter blickt eine junge Rumänin aufs Handy, während ihre beiden Töchter an einer Wasserpumpe spielen. Wer in die Seitenstraßen geht, sieht schöne alte Häuser mit sehr gepflegten Vorgärten. Vor anderen sitzen rumänische Familien auf Plastikstühlen und reden laut miteinander. Eine alte Frau hat sich ihren Stuhl direkt auf den schmalen Bürgersteig gestellt und wartet offenbar auf Unterhaltung. In manchen Hinterhöfen stehen Autos ohne Nummernschilder, irgendwo gackern Hühner.
Bis zu ein Drittel der Menschen in Dithmarschen stammen aus Rumänien
In früheren Jahrhunderten waren es Süddeutsche, die für die Dithmarscher:innen die Kohlköpfe ernteten. Irgendwann kamen Pol:innen. Seit 2015 sind es zunehmend Menschen aus Rumänien. 700 sollen heute dauerhaft in Wesselburen leben. Die genaue Zahl kennt niemand, weil nicht alle gemeldet sind. Kommen zur Erntezeit die Saisonkräfte hinzu, könnten die Rumän:innen ein Drittel der Einwohnerschaft stellen. Manchen Einheimischen macht das Angst: „Ich habe nichts gegen Ausländer“, sagt etwa eine Geschäftsfrau, die unerkannt bleiben will. „Aber wenn ich woanders hinziehe, passe ich mich doch an, oder?“
Um das gegenseitige Verständnis zu befördern, gibt es im Ort eine „Quartiersmanagerin“. Als die Stelle geschaffen wurde, übernahm eine gebürtige Rumänin den Job, die schon lange in Deutschland lebt. Weil die schwanger wurde, sitzt seit einem halben Jahr Claudia Steinseifer in dem kleinen Büro über der Tourismuszentrale, telefoniert für rumänische Familien mit Ämtern und entwirft Ideen für mehr Miteinander. Die 55-Jährige hat lange am Theater und oft mit Menschen verschiedener Herkunft gearbeitet. Dabei hat sie gelernt: „Es gibt nur einen Weg, gegen Vorurteile vorzugehen: den persönlichen Kontakt.“ 2023, so ihr Plan, soll Wesselburen ein Jahr lang „Stadt der Nachbarschaft“ werden. Dann sollen rumänische Jugendliche bei der Aufführung eines Werkes von Friedrich Hebbel (der in Wesselburen auf die Welt kam) mitwirken, die örtliche Spielmannskapelle auftreten und ein Fußballturnier steigen. Vielleicht gelingt es ihr sogar, Peter Maffay für einen Ausflug nach Dithmarschen zu gewinnen? Den Traum hat sie und auch Kontakte. Die Grenzen ihres Tuns sind ihr aber immer klar, sagt die Brückenbauerin: „Ich rechne nicht damit, dass nach dem Aktionsjahr alle in weißen Kleidern um die Kirche tanzen, Blumen werfen und rufen: ,Wir sind im Paradies!‘“ Doch wenn es ihr gelänge, zumindest einige miteinander ins Gespräch zu bringen, die „etwas aneinander entdecken“, sei das „ein Riesenerfolg“.
„Es gibt nur einen Weg, gegen Vorurteile vorzugehen: den persönlichen Kontakt.“– Claudia Steinseifer
Erste Pflänzchen der Annäherung sprießen: Kinder laden einander zum Geburtstag ein, ungeachtet kultureller Unterschiede. Ein deutsches Rentner-Ehepaar trifft sich mit zwei rumänischen Jungen für gemeinsame Unternehmungen. Und eine Engagierte hat einen Verein für mehr Miteinander im Ort gegründet und sorgte etwa dafür, dass ein Einheimischer Zugewanderten sein altes Fahrrad geschenkt hat. Zum Zusammenwachsen gibt es keine Alternative, meint Bürgermeister Heinz-Werner Bruhs (CDU), seit zehn Jahren im Amt, denn: „Hätten wir die Rumänen nicht, hätten wir ein großes Problem – gerade in der Landwirtschaft.“
Wenn die Quartiersmanagerin berät, hört sie einiges. Dann berichten Erntehelfer:innen etwa von dubiosen Arbeitsvermittlern, die Häuser gekauft haben und für viel Geld an Saisonkräfte vermieten. Oder dass ihnen der Bauer keine Arbeitsbescheinigung ausstellen wolle, den Lohn bar auszahle und versichere: „Schwarzarbeit ist das nicht!“ Sind das Ausnahmen, „schwarze Schafe“? Der zuständige Zoll in Itzehoe weiß es nicht: Wie häufig und mit welchen Ergebnissen die Behörde Höfe kontrolliert, könne er leider nicht sagen, so ein Sprecher. Die „Beratungsstelle Arbeitnehmerfreizügigkeit“ in Kiel, die landesweit geprellte Arbeiter:innen unterstützt, teilt mit, sie habe der Stadt Wesselburen bereits 2017 Hilfe angeboten und später auch Landwirt:innen der Region angeschrieben. Eine Einladung folgte bislang nicht.
Alltagsrassismus hinterm Deich
Was alltäglicher Rassismus bedeutet, kann Lavinia Stancu erzählen: Seit Monaten sucht sie nach einer neuen Bleibe für ihre Familie. Die Wohnung, in der sie mit Eltern, Schwester und einem befreundeten Ehepaar lebt, ist „in sehr schlechtem Zustand“, wie die 19-Jährige in perfektem Deutsch sagt. Doch auch wenn ihre Telefonate wegen eines Mietangebots oft schnell enden, sobald sie erwähnt, dass sie Rumänin ist, sieht Lavinia Stancu ihre Landsleute in der Pflicht: „Die Deutschen haben uns Arbeit angeboten und gute Lebensbedingungen. Und wenn ein Fremder in ein anderes Land kommt, muss er sich an die Regeln dort halten.“ Das aber würden manche nicht tun.
Die ernsthafte junge Frau ist ein Musterbeispiel gelungener Integration: In den viereinhalb Jahren in Wesselburen hat sie den Realschulabschluss geschafft, deutsche Freundinnen gewonnen und für ihre Eltern Jobs organisiert. Die Mutter hat zunächst als Küchenhilfe in einem Büsumer Hotel gearbeitet, seit neun Monaten hat sie eine Vollzeitstelle bei einem Catering-Unternehmen im Ort. Der Vater hat sich auf einem Bauernhof um die Tiere gekümmert – den Job aber verloren, weil er sich nicht gegen Corona impfen lassen will. Und sie selbst träumt davon, eines Tages bei der Polizei oder beim Augenoptiker zu arbeiten. Einen Vertrag für die Ausbildung zur Bürokauffrau hatte sie schon in der Tasche – doch wurde der wieder aufgelöst, als ihr potenzieller Arbeitgeber erfuhr, dass auch sie nicht gegen Corona geimpft ist. (Viele Rumän:innen sind nicht geimpft. Die Impfquote in dem EU-Land liegt bei nur 42 Prozent.)
Nun bewirbt sich die junge Frau weiter, jobbt halbtags als Betreuerin in der Grundschule, räumt zudem Waren in Supermarktregale ein und sagt: „Für mich ist es nicht immer einfach.“ Weil in der Wohnung nicht viel Platz ist, muss sie sich das Zimmer mit ihrer zehnjährigen Schwester teilen. Kürzlich kam auch noch ein Brief vom Stromversorger: Die Familie muss kräftig nachzahlen. Lavinia Stancu muss sich kümmern, weil sie diejenige ist, die die fremde Sprache beherrscht. Es gibt Tage, sagt sie, da träume sie davon, alleine zu leben. Sie lächelt verlegen.
Bauer Wollatz sitzt manchmal mit seinen Arbeitern zusammen und plaudert. Läuft es gut, kommt es zur Begegnung der Kulturen. Mal ist das lustig, etwa wenn einer seiner Leute sagt: „Aber Chef, du musst ein großes Auto fahren! Du kannst dir doch einen dicken 7er-BMW leisten!“ Und manchmal, erzählt Wollatz, wird es „sehr schwierig“. Etwa wenn er von Kindern hört, die nicht zur Schule gehen, oder von arrangierten Ehen. „Ich kann nicht sagen, ob wir glücklichere Ehen führen“, meint der Dithmarscher. „Aber wenn meine Leute erzählen, ihr Sohn solle eine 15-Jährige heiraten, komme ich an meine Grenzen.“ Und dennoch: Wollatz ist optimistisch, dass das Zusammenwachsen gelingen kann. Er erzählt von einem früheren Mitarbeiter, der heute in einer nahen Papierfabrik arbeitet. Der habe ein Haus in einer typisch deutschen Siedlung gekauft und lebe mit seiner Familie inmitten von Einheimischen. „Und das war eine ganz bewusste Entscheidung.“