Erfahrungen eines Ex-Obdachlosen

Disconnected#1: Entrückt

Lange lebte Simon obdachlos auf der Straße. „Von dieser Zeit bin ich weit weg", schreibt er heute. Illustration Wolfgang Wiler

Simon lebte obdachlos in Hamburg. Für Hinz&Kunzt hat er über seine Erfahrungen geschrieben.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Ich bin mit einer Freundin unterwegs. Wir gehen Hand in Hand mit der Menge. Die Menschen strömen weg von der Straße oder tiefer rein auf die Straße. Überall blinken LEDs und bunte Lichter, es wird nett lächelnd in die Läden gelockt. Zwar ist es März, doch zwischen all den Leuten beginne ich zu schwitzen. Ihre Hand lässt los. Wir wollten eigentlich mit dem Bus kommen und uns den ganzen Trubel auf der Reeperbahn ersparen – wir wollten nur gemeinsam an den Hafen, sind dann aber doch vor lauter Ablenkung und Gespräch in die Bahn gestiegen und dachten: Vielleicht kommen wir heute ja mal schnell durch die Masse.

Ich wende mich von den vorbeiziehenden Gesichtern ab, blicke nach links. Er steht plötzlich direkt vor mir und wir schauen einander in die Augen. Da erkennen wir …

Ich rufe deinen Namen, du überlegst …

„Wait, don’t say it, don’t say it! I remember!“

Du erinnerst, wir umarmen uns endlich. Es tut gut, dich wiederzusehen, es sind bestimmt schon zwei Jahre vergangen. Wir lebten hier gemeinsam auf der Straße, haben viel erlebt. Du spieltest fast immer auf deiner Gitarre, ich saß daneben und schrieb. Von dieser Zeit bin ich weit weg.

Er erzählt mir, wieder bei seiner Mutter – wieder in Schweden – gewesen zu sein, als die Pandemie schlimmer wurde und wir uns alle aus den Augen verloren. Alle versuchten zu der Zeit irgendwo unterzukommen, nach drinnen, weg von den Straßen. Es waren ja keine Menschen mehr draußen unterwegs, und die es sein mussten, gingen dadurch völlig unter. So auch er.

In Schweden lief es nicht lange gut zwischen den beiden. Nach zwei Monaten ging er wieder fort, trieb sich umher in Stockholm. Durch das Heroin wurde alles schlimmer. Wie er nach all der Zeit wieder in Hamburg gelandet ist, kann er nicht genau sagen.

„I was in Stockholm at the central station and I felt sick of that place. I don’t know, I was high most of the time and somehow ended up here, again. You know what I’m talking ’bout.“ – Damit hat er Recht.

Ich freue mich, dein Gesicht zu sehen – dass du keine Zähne mehr hast, tut weh, ehrlich. Ich schiebe den Gedanken beiseite, dein Lachen ist aufrichtig, ich will es nicht verderben; will mich auch so freuen können. Aber da ist diese Distanz.

Simons Weg runter von der Straße
Junge Obdachlose
Simons Weg runter von der Straße
Simon schlug sich in Hamburg fast eineinhalb Jahre auf der Straße durch. Heute spricht und schreibt er über diese einschneidende Zeit – um jungen Obdachlosen mehr Gehör zu verschaffen.

Du erzählst mir, wo du zurzeit schläfst, und ich verspreche vorbeizukommen.

Danach verabschieden wir uns, denn sie und ich sind hungrig, wir müssen weiter. Du ebenso, musst zwar nichts essen, hast aber anderen „Hunger“. Deine Augen geben mir zu verstehen. Es sei Zeit.

Die Wege trennen sich erneut in unterschiedliche Richtungen.

Ich hatte ihn nie dort besucht, ich konnte nicht.

Drei Monate sind seither vergangen, und ich habe oft an dich denken müssen.

Oft waren da Gewissensbisse; ich hätte nichts versprechen sollen, verdammt!

Jetzt denke ich ständig daran, merke, wie weit entfernt ich bin. Was ist los mit mir, wieso kann ich nicht zu dir gehen? Ich bekomme Panik, denke daran, was ich mitbringen würde, fühle mich bei jeder Idee schlecht. Da wäre so viel, worüber wir sprechen könnten, aber wenn ich es versuche, gehen jegliche Themen im Halse verloren. Ich merke nur, dass ich mich wieder an die Zeit erinnere, ohne davon was benennen zu können. In mir schwelen diese Erinnerungen, Fetzen, Splitter. Nichts fühlt sich verarbeitet an – ein Schlag an Gefühlen, Bildern. Ich spreche schon länger nicht mehr. Alle Prozesse trage ich tief in meinem Inneren. Ich kann mich dir nicht nähern, verbrenne in dieser Welt, zerbreche an dem Vergangenen.

Es tut mir leid.

Weitere Wochen sind verstrichen …

Du sitzt auf der anderen Straßenseite in einer Gruppe, und ich erkenne dich sofort von hier. Ich wollte mich nur setzen und etwas ausruhen, während ich auf meinen Bus warte, und dabei die vielen Eindrücke dieses verrückten Ortes auf mich wirken lassen.

Schön, dich zu sehen, du lebst! Ich lächle matt, die Freude, dich zu sehen, ist leider getrübt von dem Druck, der aufsteigt, wenn ich daran denke, zu dir herüberzukommen. Du rauchst, sprichst mit den anderen – deinen aktuellen Gefährten –, hin und wieder lassen Menschen ein wenig Geld für euch da. An sich geht’s wohl ganz gut, zumindest wird viel gelacht. Das ist wirklich schön.

Du bist noch da. Wenn auch hier.

Ich bin lediglich ein Beobachter geworden, aber du wirst es verstehen. Ich habe den Bezug verloren, das macht mich nicht kalt. Nachdem ich früher entwachsen konnte, sollte ich mich weiterhin auch besser fernhalten, mein Gewissen ist heute nicht mehr so davon belastet.

Dennoch ist der Umgang mit all diesen Gefühlen echt schwer, Mensch steht irgendwie allein damit. Wem soll ich mich anvertrauen, wen interessiert es überhaupt? Diese Konflikte schwelen in meinem Herzen, und es gibt bisher keine Linderung dafür. Es ist so einfach, von außen auf die Menschen zu blicken und sie zu verachten, über sie zu urteilen, doch dass wir einander was bedeuten und mehr sind, als nur die Versager und Kaputten dieses Systems, ist für viele so weit weg wie Nachrichten von einem anderen Kontinent. Ich kann es den Menschen nicht mal verübeln. Vielleicht aber vor Augen halten.

Errettet uns aus dieser Bedeutungslosigkeit, bitte, erfülle mich wieder mit Sinnhaftigkeit. Gibt es den Ausgang überhaupt, eine Tür?

Da sind Erinnerungen: unklar. Verschlossen.

Ich hätte nichts versprechen sollen, verdammt!

Artikel aus der Ausgabe:

Wovor habt ihr Angst?

Für unseren Humorschwerpunkt haben wir mit Atze Schröder darüber gesprochen, wie sich Comedy verändert hat – und wie er sich selbst weiterentwickelt hat. Zudem haben wir die Clowns ohne Grenzen besucht und mit einer Psychologin über die heilende Kraft von Humor gesprochen. Außerdem im Heft: In Harburg finden Drogenkranke seit mehr als 30 Jahren Hilfe. Doch die Sozialarbeiter:innen des Abrigado fühlen sich allein gelassen.

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