Interview zum Wohnungslosenbericht
„Diese Zahl muss wachrütteln“

„Wir müssen den Fokus auf Wohnungssicherung legen“, sagt Stefanie Koch vom Diakonischen Werk Hamburg. Foto: Luca Wiggers

Mindestens 3787 Menschen lebten Anfang 2024 obdachlos in Hamburg. Das hat der Wohnungslosenbericht der Bundesregierung ergeben, der am 8. Januar veröffentlicht worden ist. Stefanie Koch, Wohnungslosenexpertin der Diakonie, über ein „kollabierendesHilfesystem.  

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Hinz&Kunzt: Die Zahl der Obdachlosen in Hamburg hat sich in den letzten sechs Jahren fast verdoppelt. Haben Sie das erwartet?   

Stefanie Koch: Die Höhe der Zahl schockiert mich. Ich habe zwar mit einem Anstieg gerechnet, aber nicht in diesem Ausmaß. Vor allem, weil dieses Mal die Menschen im Winternotprogramm nicht wie 2018 mitgezählt worden sind. Man müsste sie eigentlich noch dazurechnen.  

Was bedeutet diese hohe Zahl für die Stadt?   

Dass das Hilfesystem in weiten Teilen kollabiert. Die öffentlich-rechtlichen Unterbringungen sind komplett verstopft. Nach eigenen Angaben des Senats standen allein im letzten Oktober 1200 Menschen mit Anspruch auf Unterbringung auf Wartelisten, weil es keine Plätze gab. Inzwischen dürften es noch mehr sein. Spätestens die hohe Zahl an Obdachlosen muss die Sozial- und Finanzbehörde wachrütteln. Sie ist in keinster Weise vertretbar – und in keinster Weise mehr wegzuwischen.  

 Obwohl 3783 Menschen in Hamburg obdachlos sind, schliefen im Winternotprogramm zuletzt „nur“ knapp 600 Menschen. Was sagt es über die städtischen Unterkünfte aus, dass sie von so vielen Menschen gemieden werden? 

Die Menschen brauchen normale Wohnungen. Ich bin eine Verfechterin davon, dezentrale Einzelunterkünfte bereitzustellen. Die Regelunterkünfte müssen ausgebaut werden, damit das Winternotprogramm überflüssig wird. Einrichtungen wie das Pik As oder das Frauenzimmer sollten nur Notlösungen für kurze Zeit sein.  

15 Prozent der Wohnungslosen in Deutschland verloren ihre Wohnung, weil ihr Mietverhältnis an ein Arbeitsverhältnis gebunden war, das endete. Bei den Wohnungslosen mit einer ost- beziehungsweise südosteuropäischen Staatsangehörigkeit war das noch häufiger der Fall. Beobachten Sie das auch in Hamburg?  

Ja, auf jeden Fall. Weil es in Hamburg so schwer ist, Wohnraum zu finden, versuchen Arbeitergeber, die es sich leisten können, Wohnungen anzubieten. Das führt zwangsläufig zu einem Abhängigkeitsverhältnis – und das ist ein großes Problem. Wir brauchen mehr bezahlbaren Wohnraum, um diese Abhängigkeit zu verringern. 

Bis 2030 wollen Bundes- und Hamburger Landesregierung die Obdach- und Wohnungslosigkeit abschaffen. Was müsste jetzt passieren, um das Ziel noch zu erreichen?  

Erstens: Die Saga muss den Fachstellen für Wohnungsnotfälle mehr Wohnraum zur Verfügung stellen, um wohnungslose Haushalte zu versorgen. Wenn man sich anschaut, wie wenig Wohnungen sie trotz steigender Zahlen an Obdachlose und Geflüchtete bereitstellt, ist das bei Weitem nicht ausreichend. Zweitens: Wir müssen den Fokus auf Wohnungssicherung legen. Bestehende Mietverhältnisse, die zum Beispiel wegen Mietschulden bedroht sind, müssen gesichert werden. Vom Hamburger Senat würde ich mir wünschen, dass er pragmatische und überprüfbare Ziele vereinbart und diese tatsächlich umsetzt. Drittens: Wir brauchen mehr wohnbegleitende Unterstützung wie beispielsweise Housing First. 

Können die dafür zuständigen Fachstellen für Wohnungsnotfälle das schaffen? 

Nein, die Fachstellen sind völlig überlastet, weil man denen über Jahre hinweg mehr Arbeit zugeteilt hat und weil immer mehr Menschen auf sie angewiesen sind. Jahrelang ist die Zahl der Zwangsräumungen gesunken, jetzt ist sie wieder gestiegen. Das ist für mich ein klares Signal, dass die Fachstellen ihrer Aufgabe nicht mehr nachkommen können. Es braucht mehr Personal, sonst fallen immer mehr Menschen durchs Raster. Das ist nicht nur für die Betroffenen katastrophal, sondern auch für das gesamte Hilfesystem.  

Gibt es an dem Wohnungslosenbericht auch etwas, das Ihnen Hoffnung macht?   

Grundsätzlich finde ich gut, dass wir jetzt Zahlen haben. Die sind zwar niederschmetternd und deprimierend, aber sie können nicht mehr weggewischt werden. Jetzt muss die Sozialbehörde handeln.

Autor:in
Luca Wiggers
Luca Wiggers
1999 in Hannover geboren, hat dort Germanistik und Anglistik studiert und ist Anfang 2022 nach Hamburg gezogen. Seit Juni 2023 Volontärin bei Hinz&Kunzt.

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