Kranker Junge und seine Familie sollen abgeschoben werden
(aus Hinz&Kunzt 118/Dezember 2002)
Seit zehn Jahren lebt eine jugoslawische Familie in Hamburg. Der 14-jährige Sohn wird hier medizinisch behandelt. Doch seine Geschwister und Eltern sollen abgeschoben werden.
Er hat seinen besten Anzug für sie gewählt. Früh ist Jozo Adamovic* aufgestanden, um eine der ersten Wartenummern auf der Ausländerbehörde zu ziehen. Drei Stunden sind seitdem vergangen.
Unruhig geht der 36-Jährige durch den Raum, in dem rund 100 Flüchtlinge sitzen. Immer wieder sucht er mit den Augen die Leuchtanzeige an der Wand, die das Ende des quälenden Wartens verkünden soll. Der Mann riecht nach Angst. Vor vier Wochen ist er zuletzt auf dem Amt gewesen. Bisher habe noch kein Flüchtling aus Jugoslawien Asyl bekommen, habe ein Sachbearbeiter ihm da mitgeteilt. „Wir versuchen es. Ich will nicht, dass mein Kind in ein paar Monaten stirbt“, hat der Vater geantwortet. Er werde sowieso abgeschoben, habe sein Gegenüber gesagt. Da solle er besser gleich ausreisen, freiwillig. Die Winter seien kalt in Montenegro…
Sohn Christoph* ist krank. „Eine therapeutisch sehr schwer einzustellende Epilepsie“, so die Ärzte, hat sich des 14-Jährigen bemächtigt. Fünf Jahre ist das her, einen ganzen Koffer füllen die Atteste der Mediziner inzwischen. Wenn Jozo Adamovic in der Flüchtlingsunterkunft sitzt und ihn das Gefühl der Ohnmacht übermannt, zieht er den Koffer aus der Zimmerecke hervor, wühlt aufgeregt im Zettelwust und wedelt mit den Papieren. Ruft: „Hier steht es!“ oder „Hier, lesen Sie!“, als suche er den letzten Beweis dafür, dass er im Recht ist. Seine Frau sitzt auf der Wäschetruhe und schweigt. Ab und zu stößt sie einen Seufzer aus.
Lange hat es gedauert, bis die Ärzte die Krankheit in den Griff bekamen. Mit Schrecken erinnert sich der Vater an die Zeiten, wo er Nacht für Nacht neben seinem Sohn wachte, aus Angst vor dem nächsten Anfall. Nun haben die Neurologen endlich ein wirksames Mittel gefunden, und Adamovic sagt: „Hier können wir mit der Krankheit kämpfen, das ist schwer genug. Aber dort…“
Dort, im 2000 Kilometer entfernten Montenegro, herrschen Armut und Arbeitslosigkeit. Wenn Jozo Adamovic mit den wenigen Verwandten dort telefoniert, raten sie ihm: „Bleib, wo du bist!“ Neulich erzählte der Schwager vom Leben in der Krisenregion. Er hat Arbeit, als Müllmann. Zur Schule könne er seine Kinder dennoch nicht schicken. Das Geld reiche kaum fürs tägliche Brot. Da hat Adamovic sich gefragt: „Der Mann arbeitet und hat gesunde Kinder. Wie soll ich das machen, ohne Arbeit und mit einem kranken Kind?“
Gibt es in Montenegro das Medikament, das Christoph braucht? Gibt es erfahrene Ärzte und Kliniken? Und gibt es das auch für Heimkehrer, die keinen Cent in der Tasche haben? Die deutsche Botschaft hat der Ausländerbehörde mitgeteilt: Kein Problem, ein vergleichbares Medikament ist erhältlich. Doch hilft es Christoph genauso gut? Und vor allem: Wird sein Vater es besorgen können? „Offiziell ist die medizinische Behandlung kostenlos in Montenegro. Faktisch nicht“, sagt Anne Harms von der Beratungsstelle Fluchtpunkt. „Eine aufwändige Behandlung wird dort zur Geldfrage.“
Genau das aber ist die Therapie von Christoph: aufwändig. Regelmäßig muss er untersucht werden und auch mal ins Krankenhaus. „Ein Absetzen oder auch eine kurzfristige Unterbrechung dieser Therapie würde größte Risiken bis hin zu einem lebensbedrohlichen Status epilepticus mit sich bringen“, warnen seine Ärzte und schreiben: „Zu telefonischer Rücksprache und weiteren Auskünften sind wir wie mehrfach mitgeteilt gerne bereit.“ Die Behörde rief nie an.
Humanitäres Bleiberecht“ für seine Mandanten fordert Rechtsanwalt Georg Debler. Doch so etwas gibt es in Deutschland nicht. Der Anwalt weiß: „Juristisch hängen wir an einem dünnen Faden.“ Seit Monaten streitet Debler mit der Ausländerbehörde, einmal hat er die Abschiebung der vier gesunden Familienmitglieder in allerletzter Sekunde verhindern können – der kranke Christoph wäre allein in Hamburg geblieben. Nun hat der Anwalt Abschiebeschutz beantragt. Doch die Chancen für die Familie stehen schlecht: „Ich bin leider ganz pessimistisch.“
1992 ist die Familie nach Deutschland geflohen. Auf dem Balkan breiteten sich die Kriege aus, der Vater fürchtete, die Armee könne ihn einziehen. Die Adamovics beantragten Asyl und bekamen eine Duldung – bis heute. Seit gut zehn Jahren leben sie in der neuen Heimat. Die Kinder sind hier groß geworden, der Jüngste ist hier geboren.
Ein Flüchtling torkelt alkoholisiert zu den Eisengittern, die die Sachbearbeiter vor den Wartenden schützen sollen. Dem Mann steht offensichtlich die Abschiebung bevor, seine Habseligkeiten hat er in einen großen Koffer gepackt. „Muss ich heute fliegen oder nicht?“, ruft er dem Uniformierten zu, der die Metalldrehtür bewacht. Der zuckt mit den Achseln. „Du musst warten!“
Die Adamovics haben an diesem Tag Glück im Unglück: Sie geraten an einen freundlichen Sachbearbeiter. Es habe so lange gedauert, weil er mit dem Bundesamt telefonieren musste, entschuldigt sich der Beamte für die dreistündige Wartezeit. Dann schenkt er der Familie zwei weitere Monate Deutschland. So lange werde es dauern, bis das Bundesamt über den Antrag des Anwalts entscheidet.
Später redet Jozo Adamovic wieder gegen die Angst an. In langen, schwer verständlichen Kaskaden schüttelt die Verzweiflung die immer gleichen Sätze aus dem Mann, bis er müde in sich zusammensackt. Er schweigt kurz, die Muskeln spannen sich, dann ringt er erneut mit der Hilflosigkeit. „Was haben wir getan?“, fragt er. Ich schweige. „Was soll aus meinem Sohn werden, wenn wir abgeschoben werden?“ Ich blicke zu Boden. „Sagen Sie mir: Was kann ich noch tun?“ Ich spanne die Muskeln an. „Manchmal liegen wir nachts stundenlang wach. Wir können einfach nicht mehr schlafen…“ Ich nicke wortlos.
Der Traum des Jozo Adamovic ist so klein wie menschlich. Er will nur eins: ein normales Leben. Und die Chance, dass sein Sohn überlebt.
Ulrich Jonas
* Name geändert
Offiziell leben in Hamburg rund 15.000 Menschen mit dem rechtlich unsicheren Status einer Duldung. In den ersten neun Monaten 2001 zählte die Ausländerbehörde 1361 „Rückfüh-rungen“. Bis zum 30. September dieses Jahres waren es schon 2197.