Berlins älteste Doktorandin Elisabeth Naumann und ihre Arbeit über Kioske und Imbissstände
(aus Hinz&Kunzt 141/November 2004)
Was für die meisten nur eine Imbissbude ist, das ist für die 81-jährige Elisabeth Naumann das vielleicht größte Forschungsfeld überhaupt. Berlins älteste Doktorandin promovierte nämlich über Kioske.
300 Imbissbuden hat sie besucht und dabei ungezählte Currywürste gegessen – nur um mit den Menschen in Kontakt zu kommen. Vor fünf Jahren veröffentlichte sie ihre Doktorarbeit, die inzwischen als Buch zu kaufen ist. Die Soziologin fahndete nach den Ursprüngen der modernen Imbisskultur – und wollte vor allem eines wissen: was die Kioskwelt in ihrem Innern zusammenhält.
Naumann entdeckte einen Kosmos mit eigenen Regeln und Strukturen. Denn häufig ist ein Kiosk nicht nur ein Ort des Konsums, sondern auch der Begegnung. Hier spricht der Yuppie mit dem Obdachlosen – vor der Currywurst sind alle gleich. Auch wenn der Besuch im Durchschnitt nur sieben Minuten dauert, wie Naumann herausfand.
Einige Kioske und Trinkhallen sind ein soziales Auffangbecken, so die Forscherin. Besonders beeindruckte sie ein Kiosk im Bahnhof Zoo in Berlin. Die Besitzerin wird liebevoll „Mutti“ genannt, für ihre Kunden ist sie eine Instanz. Sie kümmert sich, hält heiße Brühe bereit, einen Kaffee gibt es auch mal umsonst, und immer freundliche Worte. Die Obdachlosen danken es Mutti und sammeln karge Geldbeträge, um ihr zum Geburtstag Blumen zu schenken.
Der Kiosk – eine letzte Bastion der Gesellschaft und der Geselligkeit. Nicht nur für Obdachlose. Naumann: „Auch viele Ältere gehen zum Kiosk und sagen, das ist manchmal meine einzige Gesprächsmöglichkeit am Tag.“
Zu Beginn ihrer Untersuchung war Elisabeth Naumann alles, nur keine Imbiss-Insiderin. Als Kind eines Arztes in einer Kleinstadt durfte sie nicht einmal in der Öffentlichkeit ein Eis essen, „das hätte nicht in die bürgerliche Etikette gepasst.“ Das typisch Bürgerliche legte sie erst spät ab. Zunächst war sie Volksschullehrerin, ab 1970 bildete sie in Marburg Lehrer aus. Die wahre Imbisskultur lernte sie auch da noch nicht kennen. Sie lacht: „Ich hatte nur einen Bezug zu den kleinen Bahnhofskiosken – wenn ich auf den Zug gewartet und mir gelegentlich weiße Mäuse gekauft habe.“
Das änderte sich, als sie Ende der siebziger Jahre nach Berlin zog. Zwei Schülerinnen von ihr fragten sie damals, ob sie nicht mit in eine Frauen-WG ziehen wolle. Das tat sie – mit 56. Und mit 66 begann die 1,55 Meter große Frau mit den schlohweißen Haaren ihr Soziologiestudium.
Dem Kiosk begegnete sie in einem Seminar über „Rausch und Drogen“ – weil sich im Kiosk die Alkoholiker versorgen, wenn alles andere geschlossen hat. Langsam tastete sie sich an die unbekannte Welt heran, lernte den manchmal rauen Umgangston kennen. „Feine Kultur ist das natürlich nicht“, sagt sie, „wer nicht genau bestellt, was er möchte, wird schon mal zurechtgewiesen.“
Die Forscherin weiß, warum der Imbiss so beliebt ist: „Die schnelle Verfügbarkeit macht ihn attraktiv, der unmittelbare Lustgewinn, ich muss nicht auf Kellner warten. Und der Duft!“ Aber es ist auch die Befreiung von bürgerlicher Etikette, wie sie Naumann selbst in ihrer Kindheit erfahren hat: „Manieren und Essregeln – ‚Stütz deine Ellbogen nicht auf!‘– ist man nicht unterworfen.“
Männer stehen lässiger als Frauen, fand Naumann in ihrer teilnehmenden Beobachtung heraus. Frauen hingegen legen mehr Wert auf Haltung, sie nehmen häufiger etwas mit, anstatt es vor Ort zu verzehren. Älteren scheint das Essen in der Öffentlichkeit eher peinlich zu sein, sie wenden sich beim Verzehr von anderen Gästen ab, so Naumann. Nie würden sie im Gehen essen – im Gegensatz zu den Jungen. Nach wie vor gilt der schnelle Imbiss übrigens als schmuddelig oder als Arme-Leute-Essen. Denn fast alle Befragten rechtfertigten sich gegenüber Naumann für ihren Imbiss-Aufenthalt.
Importiert wurde Fast Food nach dem Zweiten Weltkrieg von den Amerikanern – auch wenn es in Deutschland vorher schon die Wurstmaxe gab, heiße Würste aus Bauchläden. Dahinter steckt eine jahrhundertelange Entwicklung. Im 16. Jahrhundert stand „Kiosk“ noch für adelige Erholung, das aus dem Persischen stammende Wort bezeichnete die Gartenzelte der Sultane. Deren Architektur übertrug sich später auf Häuschen für die kostenlose Wasserausgabe im osmanischen Reich. Im 19. Jahrhundert wurde diese Form in Europa übernommen, wo die Industrie wuchs und Maschinen den Arbeitsrhythmus bestimmten. „Die Arbeiter sollten sich in ihren kurzen Pausen schnell versorgen können“, erklärt Elisabeth Naumann.
Längst sind die Imbissbuden nicht mehr nur Proletariern vorbehalten. Heute gilt die Currywurst, direkt vor aller Augen zubereitet, als ehrliche Mahlzeit. Deshalb nutzen Politiker immer häufiger öffentliche Currywurst-Auftritte, um Bodenständigkeit zu demonstrieren. Dr. Elisabeth Naumann hingegen kommt immer seltener in eine Imbissbude. Sie zog von Berlin in einen kleinen bayerischen Ort ohne Kioske, natürlich gemeinsam mit ihren beiden Freundinnen aus der Frauen-WG. Sie genießt die neue Ruhe. Nur wenn sie mal in größere Städte kommt, besucht und begutachtet sie Kioske. Und die werden immer weniger, wie sie feststellt. Den Ordnungsämtern gelten sie als Schmuddelecken, und so hat Naumann schon zahlreiche alte, ehrwürdige Buden verschwinden sehen. Damit geht jene Kultur unter, der sie in ihrem Buch Ehre erweist. Und so fordert die 81-Jährige: „Bitte lasst die Kioske nicht sterben.“
Thorsten Mack
Buchtipp: Elisabeth Naumann, Kiosk – Entdeckungen an einem alltäglichen Ort, Jonas-Verlag, 20 Euro