Natur- und Entspannungserlebnis in einem: Beim „Waldbaden“ lernen gerade Städter*innen sich und ihre Sinne neu kennen – Gesundheitsbonus und Glückserlebnisse gibt’s inklusive. Ein Selbstversuch im Niendorfer Gehege.
Kratzbürstig und abweisend fühlt es sich an, als ich mich endlich traue. Und mich, mit dem Gesicht voran, jetzt mit dem ganzen Körper an den mächtigen Eichenstamm schmiege, meine Arme um ihn schlinge. Doch dann passiert Erstaunliches: Die rissige Rinde schneidet nicht wie befürchtet weiter schmerzhaft in meine Haut ein, sondern der Druck lässt allmählich nach. Ein weiches, wohliges, einendes Gefühl stellt sich ein. Und ich stelle überrascht fest, dass diese Eiche anders riecht als die Buche, die ich ein paar Minuten zuvor umarmt habe. Man wisse inzwischen, wird mir Lara Leonie Keuthen später sagen, dass es Baumarten gebe, die durch ihren individuellen Geruch untereinander kommunizieren. Das hätte ich nicht gedacht.
Lara und ich sind im Niendorfer Gehege verabredet. Es ist ein Mittwochnachmittag, die wenigen Besucher*innen weichen einander corona-vorschriftsmäßig aus und verteilen sich weiträumig, sodass wir zwei – natürlich ebenso auf Mindestabstand bedacht – unser Revier immer wieder mal ganz für uns alleine haben. Das tut unserer Unternehmung gut, denn die 30-Jährige will mich in die Geheimnisse des Waldbadens einführen.
Lara war kurz vorm Burnout – oder schon mittendrin
„Eintauchen in die Waldatmosphäre“ – das ist die freie Übersetzung des „Shinrin Yoku“, eines 1982 in Japan geprägten Begriffs, der sich inzwischen zu einer weltweiten Wissenschaft ausgebildet hat. Einfach gesagt, geht man beim „Shinrin Yoku“ im Wald spazieren und widmet sich den vielfältigen Sinnen der Natur – sowie seinen eigenen. Und da der Wald als solcher ja vielen deutschen Dichter- und Denker*innen als Teil unserer nationalen Seele gilt, bin ich neugierig darauf, hier und heute vielleicht auch dem eigenen Wesen und Sein nachzuspüren.
Lara hat das am eigenen Leib erfahren. Die junge Frau mit den langen Waldfee-Locken und dem offenen Lächeln hat sich im vergangenen Jahr an der „Deutschen Waldakademie“ ausbilden lassen, sozusagen zur Waldmeisterin, ein Karriereschwenk der überlebenswichtigen Art. Denn Lara hatte zuvor nach eigenem Eingeständnis „entweder direkt vor einem Burnout gestanden oder ich war schon mittendrin“. Forderndes Studium sowie der folgende spannende, mehrjährige Job in einer PR-Agentur mit schnell semi-verantwortlicher Funktion hatten hochgradig stressende Schleifspuren in ihrer Psyche hinterlassen. „Meine WG hat mich immer wieder bedrängt, dass es für mich noch was anderes geben muss“, gesteht Lara offen. Sie sucht nach neuen Wegen: endlich entschleunigen, sich tiefer fühlen. 2017 hört sie erstmals vom Waldbaden und ist – selbst einst als Kind ganz nah am Wald groß geworden – schnell fasziniert. So kommt eins
zum anderen.
Waldbaden mit Lara
Tatsächlich ist die vielfach gesundheitsfördernde Wirkung des Waldes inzwischen gut erforscht. Die Luft hier steckt voller Terpene – sekundäre bioaktive Pflanzenstoffe, die unsere Abwehrkräfte stärken. Die Farbe Grün beruhigt überdies Herz und Nieren und unterstützt entzündungshemmende Effekte. Puls und Blutdruck fahren runter, selbst der Blutzuckerspiegel kann profitieren. All das will Lara nun auch mich großstadtsüchtigen Kiezgänger in den gut zwei Stunden unseres Wald-Dates spüren lassen. Um den Hals trägt sie eine lange Kette mit kleinem Anhänger, darauf steht: „Love and beloved“. Das, sagt Lara, sei ihr Wald-Glücksbringer, Geschenk einer Freundin.
20 Minuten „Solo-Waldzeit“
Rund 80 Übungen hat sie parat, die sie je nach Gruppe, gebuchtem Programm, Wetter und Tagesfühligkeit variiert. Wir beginnen mit Atemerfahrungen, anschließend ziehe ich eine Farbkarte und mache mich auf die Suche nach gleichfarbigen Waldutensilien, um meine Sinne zu schärfen für die Vielfalt der hiesigen Welt. Energetische Aktivierungsübungen für Körper und Geist folgen – so klopfen wir uns im Sitzen mit den Handballen von oben bis unten ab, jede*r für sich. Dann folgt das Highlight: Ich bekomme 20 Minuten Solo-Waldzeit. „Lass dich einfach treiben“, sagt Lara, „wenn ich mit dem Glöckchen läute, kommst du zurück.“
Was folgt, ist traumhafte Ziellosigkeit. Ich spüre den frühlingswarmen Waldboden, schließe minutenlang die Augen, schnuppere an Bäumen, höre auf sich leise wiegende Äste, irgendwo nicht weit weg klagt ein Käuzchen. Vergessene Erinnerungen tauchen aus dem Nichts auf: an kindliche Sonntagsausflüge mit meinen verstorbenen Vater, der den Wald liebte, an einen andächtigen Spaziergang mit meinem Sohn durch den Mammutwald im Sequoia-Nationalpark von Kalifornien – jener Baumriesen wie aus dem „Herrn der Ringe“, die mehr als 3000 Jahre alt werden können. Lara lächelt, als ich ihr später davon erzähle. Im Wald liegt wohl auch ein Teil meiner Wahrheit.
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